«Die Glaubwürdigkeit ist unser grösstes Gut»
Herr Maurer, Sie waren soeben in Kolumbien. Welche Eindrücke haben Sie gewonnen?
Peter Maurer: In Kolumbien gibt es den Konflikt zwischen der Regierung und den Farc-Rebellen, dazu kommt Gewalt von Drogenbanden. Darunter leidet ganz besonders die Zivilbevölkerung ausserhalb der grossen Städte. Sie wird quasi als Geisel genommen zwischen der Armee und den bewaffneten Gruppierungen. Die Felder sind vermint, die Kinder können nicht mehr in die Schule gehen, die Lehrer weigern sich zu unterrichten, die Menschen wagen sich nicht in die Gesundheitszentren. In den grösseren Städten funktioniert Kolumbien wie ein modernes, aufstrebendes Land, aber ausserhalb der Zentren gibt es Landstriche, die stark unter dem bewaffneten Konflikt leiden. Diese Polarität zwischen einem reformwilligen Land und der schwierigen Realität in einigen Regionen hat mich besonders beeindruckt.
In Kolumbien kann sich das IKRK frei bewegen – in Syrien ist das unmöglich. Werden Sie dennoch wieder nach Damaskus reisen?
Ich werde sicher wieder nach Damaskus reisen, wenn ich dazu beitragen kann, die Operationen des IKRK zu erleichtern. Im Moment ist aber keine Reise geplant.
Vergangenen Herbst haben Sie Bashar Assad persönlich getroffen. Wie ist er?
Ich habe mit allen syrischen Gesprächspartnern einschliesslich des Präsidenten sehr sachliche Gespräche geführt. Das IKRK hat gute Arbeitsbeziehungen mit allen Konfliktparteien.
Sie verhandeln mit Staatsoberhäuptern und Diktatoren, um die Not der Menschen zu lindern. Ist humanitäre Hilfe verhandelbar?
Die Art und Weise wie Hilfe erbracht wird: ja. Prinzipien und Rechte nicht. Oft muss in zähen Verhandlungen der Zugang errungen werden. Die Glaubwürdigkeit ist unser grösstes Gut; daher müssen wir immer darauf dringen, dass Grundregeln überall und in gleicher Weise gelten.
Gibt es eine Verhandlungstaktik?
Es gibt keine Patentrezepte, aber eine gesunde Mischung von Kritik, Respekt und Empathie ist unerlässlich. Es ist immer wichtig. die Position des Gegenübers zu verstehen, auch wenn man sie nicht teilt. Die Übernahme von Stigmatisierungen und Klischees an den Verhandlungstisch ist kaum zielführend.
Wie reagieren die Potentaten?
Es gibt kein allgemein gültiges Reaktionsmuster in humanitären Verhandlungen. In der Regel führt Sachlichkeit und Offenheit zu Sachlichkeit und Offenheit, und manchmal zu konkreten Resultaten.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage in Syrien?
Die humanitäre Lage verschärft sich zusehends. Die Kämpfe bereiten sich aus und intensivieren sich, worunter immer mehr Teile der Zivilbevölkerung leiden: Sie müssen ihre Häuser verlassen, es gibt immer weniger Rückzugsgebiete, der Zugang der humanitären Akteure zu den Hilfsbedürftigen wird zunehmend schwierig. Trotz all dieser Schwierigkeiten konnten wir unsere Aktivitäten in den vergangenen Monaten ausbauen. Das grosse Problem ist die Schere: Unsere Fähigkeit, die Hilfe auszubauen, hinkt der Geschwindigkeit hinterher, mit welcher der Konflikt sich ausweitet. Das führt dazu, dass Teile von Syrien wenig oder gar keine humanitäre Hilfe erhalten.
Offenbar kommt es zu Folter und Exekutionen durch beide Konfliktparteien. Was wissen Sie davon?
Wir wissen von den Vorwürfen von beiden Seiten an die jeweils andere Aderesse und versuchen so gut wie möglich, diese abzuklären. Die Art und Weise, wie dieser Krieg von beiden Seiten geführt wird, bereitet uns grosse Sorgen. Wir sind immer wieder Zeugen von Verletzungen des humanitären Völkerrechtes.
Wie gehen Sie persönlich mit den Bildern von Krieg und Zerstörung um?
Wie alle Menschen bin ich von derartigen Bildern und Meldungen natürlich tief betroffen. Ich habe jedoch das Privileg, gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen immer wieder und in jeder Situation versuchen zu können, etwas Linderung zu bringen. Handeln ist die beste Therapie im Umgang mit Schrecken.
Wo sind aktuell die grössten humanitären Krisen?
Wenn wir alleine von der Anzahl Menschen in lebensbedrohenden Notlagen ausgehen, dann gibt es viele Konflikte, die von den Medien oft vergessen werden: die Demokratische Republik Kongo, Yemen, Somalia und Sudan, aber auch lang andauernde Situationen mit viel Gewalt wie Afghanistan und Irak. Wenn wir aktuelle Krisenherde betrachten, dann ist sicher die Lage in Syrien besonders dramatisch. Auch Mali und die Sahelregion insgesamt machen uns Sorgen, weil lang andauernde ökologische Krisen und Unterentwicklung sowie bewaffnete Konflikte sich gegenseitig verstärken.
Was bedeutet das für die konkrete Arbeit des IKRK in Mali?
Eine unserer grössten Sorgen ist, mit verschiedenen, bewaffneten Konfliktparteien immer wieder in Kontakt zu sein. Erste Priorität ist jetzt, die Versorgungskanäle zur Zivilbevölkerung zu öffnen. Der Norden Malis ist nach wie vor am wenigsten durch internationale Akteure abgedeckt. Die Sicherheitslage ist dort nach wie vor prekär. Für uns heisst das: Wir müssen sehr sorgfältig agieren und das Programm der letzten sechs Monate – Nahrungsmittel- und Medikamentenversorgung – aufrechterhalten und wenn nötig ausdehnen.
Angesichts der zahlreichen Einsätze weltweit entsteht der Eindruck einer klassischen Sisyphus-Arbeit.
Dieser Eindruck mag entstehen, weil humanitäre Arbeit die Konflikte ja nicht beseitigen kann und weil diese meist länger dauern als erwartet und ihre Lösung komplizierter ist als erhofft. Soll die Hilfe jedoch nicht erfolgen, wenn die Politik keine Lösungen findet? Das wäre, wie wenn in unserem Land die Ambulanzdienste eingestellt würden, nur weil es der Automobilindustrie nicht gelingt, sichere Autos zu bauen oder die Regeln im Strassenverkehr nicht eingehalten werden.
Was trägt die Schweiz zum IKRK bei?
Die Schweiz ist der zweitgrösste Geldgeber des IKRK und hat 2012 über 110 Millionen Franken beigetragen, 2013 werden es rund 120 Millionen sein.
Im Komitee sitzen nur Schweizer, hingegen sind vier Fünftel der rund 13’000 Mitarbeiter Ausländer. Wie kommt das?
Es ist praktisch auch heute die beste Lösung, wenn die Gouvernanz des IKRK mit Schweizer Bürgern besetzt ist. Wäre dem nicht so, müssten wohl andere Vertretungskriterien gefunden werden, welche Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gefährden könnten.
In der Weltpolitik haben Akteure wie China, Indien und Brasilien zunehmend das Sagen. Welche Folgen hat dieser Machtwechsel für das IKRK?
Wie sind uns dieser Entwicklung sehr bewusst und haben schon vor einigen Jahren angefangen, mit diesen aufstrebenden Mächten strategische Partnerschaften aufzubauen. Für mich ist die Konkretisierung dieser Partnerschaften eine wichtige Aufgabe. Dabei geht es keineswegs nur um Geld, sondern um Zusammenarbeit bei wichtigen humanitären Fragen.
China ist nicht gerade ein Vorzeigeland für das Völkerrecht. Bezahlen die Chinesen zumindest grosszügig in die IKRK-Kasse?
Das Gespräch mit China hat sich in den letzten Jahren vertieft und weist interessante Perspektiven auf, gerade auch, weil China in vielen Regionen der Welt Interessen hat und daher vermehrt in Kontakt zu den Aktivitäten des IKRK kommt. Austausch und Zusammenarbeit vervielfältigen sich sowohl mit der Regierung wie auch mit dem Chinesischen Roten Kreuz. Seit einiger Zeit ist China auch ein Geberland des IKRK, und wir hoffen, dass es dies in Zukunft noch vermehrt sein wird.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Auszüge aus dem Interview mit Peter Maurer, das zuerst in der "Südostschweiz am Sonntag" erschien.