«Widerspruch» zur Krise der Care-Arbeit
Die Zeitschrift «Widerspruch» erscheint zweimal jährlich. Das letzte Jahr war eine Ausnahme, denn der langjährige Redaktor Pierre Franzen erkrankte, so dass die Herbstnummer ausfiel. Die neue Redaktion würdigt Franzen als «eine der treibenden Kräfte bereits bei der Gründung des Zeitschriftenprojekts. Seit 1981 arbeitete er im Redaktionskollektiv und übernahm bald dessen Koordination und Leitung. Pierre war nicht nur die Schlüsselperson in Redaktion und Herausgeberschaft, er war auch ein passionierter Werber und Verkäufer.» Noch im Frühsommer hat Franzen die Kontakte zu den Autoren und Autorinnen des neuen «Widerspruch» mit dem Titel «Care, Krise und Geschlecht» geknüpft. Dann musste er sich krankheitshalber aus der Redaktion zurückziehen.
Krise der Care-Arbeit
Im hier gekürzt wiedergegebenen Editorial des neu im Rotpunktverlag erscheinenden «Widerspruch» steht zur Krise der Care-Arbeit folgendes:
In Politik und Medien wächst die Besorgnis über die Zukunft einer Wirtschaftsgesellschaft, die dem Marktwachstum den Vorrang gibt vor der Erhaltung der Lebensgrundlagen. Versorgungslücken werden diagnostiziert, Überalterung und explodierende Sozial- und Gesundheitskosten beklagt, jüngere Generationen auf ein Leben nach dem Sozialstaat, auf höhere Risiken eingestimmt. Von einer Krise der betreuenden, pflegenden, versorgenden Arbeit, der Care-Arbeit, ist gar die Rede.
Zu oft vermischt sich diese Besorgnis indessen mit dem Bestreben, ein «Erfolgsmodell» fortzuschreiben, das seine Probleme stets nach denselben destruktiven Rezepten angeht: noch intensivere Nutzung der Arbeitskraft und ihrer Ressourcen, selektive Ausbeutung von Migrantinnen und Migranten, Indienstnahme sozialer und familiärer Sorgearbeit, Kommerzialisierung gemeinwirtschaftlicher Leistungen, Öffnung für den «Weltmarkt» und Verschleuderung nicht erneuerbarer natürlicher Ressourcen. Dieser global durchorganisierte Gratisbezug von reproduktiven Leistungen und Gütern schlägt in der wirtschaftlichen Gesamtrechnung des kapitalistischen «Erfolgsmodells» seit jeher kaum zu Buche.
Lobgesänge auf die Freiwilligenarbeit
Umso zugespitzter zeigen sich nun, unter Bedingungen der Wirtschaftskrise, die Widersprüche auch in den Gesellschaften des globalen Nordens. «Strukturanpassungen», bis vor Kurzem vorrangig den wirtschaftlich nicht «liberalisierten» Gesellschaften verordnet, werden nun auch hier durchgepeitscht. Zum einen werden Gesundheitswesen und Bildung dem internationalen Kostenwettbewerb ausgesetzt. Zum anderen stösst das grosse Volumen an reproduktiver Gratisarbeit, die insbesondere Frauen seit jeher leisten, an Grenzen, und dies nicht zuletzt deshalb, weil die Erwerbsquote der Frauen in den Industrieländern gesteigert werden konnte.
Es verschärfen sich Ausbeutung und Geringschätzung von Migranten und Migrantinnen, ohne deren Leistungen grosse Bereiche öffentlicher, privatwirtschaftlicher und Haushalts-Dienstleistungen radikal infrage gestellt wären. Es mehren sich politische Lobgesänge auf die Freiwilligenarbeit, während in der Realität die sozialen Räume und biografischen Zeitfenster für solche «nicht produktive», nicht marktwirtschaftliche Tätigkeiten immer enger werden.
Reparaturmassnahmen sollen die Krise kaschieren
Die aktuelle politische Debatte in der Schweiz, in Deutschland und den umliegenden Ländern bietet in dieser Situation vielerlei Reparaturmassnahmen an, welche die gröbsten Folgen der drohenden «Care-Krise» kaschieren sollen: Massnahmen zur besseren «Vereinbarkeit» von Beruf und Privatleben, die das arbeitende Subjekt stabilisieren und Leistungsressourcen sicherstellen sollen; Ruf nach mehr Freiwilligenarbeit zur Entlastung von Staatsbudget und Sozialabgaben der Wirtschaft; Anwerbung ausländischer Fachkräfte im Gesundheitswesen, nachdem die inländische Ausbildungspolitik versagt hat und die Wertschätzung pflegerischer Berufe gesunken ist; Einstellung von Pflegekräften und Haushilfen aus Osteuropa in Privathaushalten für Betreuungsarbeiten rund um die Uhr, die mit schweizerischen Fachkräften nicht bezahlbar wären; Anrechnung von Care-Leistungen in Form von individuellen Zeitkonten mit Optionen auf den Bezug von Sozialleistungen; rechtsbürgerliche Initiativen zur Einführung von Betreuungsgeldern oder Steuerabzügen für Eltern, welche ihre Kinder zu Hause betreuen, und so weiter.
Die in diesem Band vereinten Beiträge widmen sich den Hintergründen und Auswirkungen der Krise der Care-Arbeit im globalen Norden und Süden. Anhand von Forschungsresultaten und eigenen Studien untersuchen die Autorinnen die Wechselbeziehungen zwischen Care-Ökonomie, Migration und den sich ausbreitenden prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen.
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Nähere Angaben finden sich unter www.widerspruch.ch.
Das Einzelheft kostet CHF 25.00 bzw. EUR 18.00
Das Heft kann hier bestellt werden und ist auch im Buchhandel erhältlich.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
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