Die Millionengala – ein Stück Schweiz
Er zeigt ja ein Stück Schweiz, der «Swiss Award», veranstaltet von der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG SSR und durchgeführt von Schweizer Radio und Fernsehen SRF im Hallenstadion von Zürich. Also setze ich mich hin und harre der Dinge und der Preisträger, die da kommen sollen.
Das lange Warten
Das heisst zuerst vor allem: Ich harre. Angesagt ist die Sendung auf 20 Uhr. Es läuft Werbung. Danach ein Programmhinweis oder deren zwei. Danach wieder Werbung. Dann «Swiss Award» mit der lächelnden Moderatorin – nein, nicht die Sendung sondern der Hinweis: «jetzt gleich!» (oder so ähnlich). Dann wieder Werbung. Um 20.07 blicke ich auf die Uhr. – Gewiss, der Konsum muss angekurbelt werden; auch das ist ein Stück Schweiz. Und die SRG muss Geld verdienen. Also muss ich damit leben, dass das läuft wie im Schweizer Fenster eines kommerziellen Privatsenders. – Dann nochmals ein Programmhinweis, wahrscheinlich auf den «Bestatter».
Und dann der «Swiss Award». Vielmehr, genau gesagt, der «Countdown zum Swiss Award»: Der unvermeidliche Sven Epiney präsentiert in strahlender Begeisterung und jovialer Vertrautheit die bekannten und die (vielleicht nur mir) noch weniger bekannten Prominenten, die am Roten Teppich vorgefahren werden. Ein Hauch von Cannes oder Los Angeles weht durch die kühle Nacht vor dem Hallenstadion in Zürich, und ich weiss: ich bin in der Provinz.
Die neue Moderation
Bis schliesslich dann die Show doch noch beginnt, mit dem Auftritt der neuen Moderatorin, und ich gestehe, sie lässt mich den überlangen Einstieg in einem kurzen Augenblick vergessen. Es ist ein klassischer Auftritt. Die SRF-Garderobe hat für einmal die Gastgeberinnen nicht mit aufgeplusterten Roben behängt sondern in ihren Vorzügen aufs Beste unterstützt. Susanne Wille liefert eine klassische Moderation, klar, direkt, schnörkellos. Sprachgewandt in deutsch, französisch, italienisch und rumantsch begrüsst sie das Publikum von Zürich über Genf und Chiasso bis Martina. Das tut wohl, erspart die Doppelmoderation und macht dosiertes Tempo. Wille bringt, endlich, den nötigen Schub in das fast drei Stunden lange Programm. Eine Journalistin auf der grossen Bühne des Show-Business. Ich bin angetan, und das bleibt so bis zum Schluss.
Und überhaupt, die Frauen. Christa Rigozzi, mit ihrem formvollendeten Auftritt, ein kluger Kopf, schön sowieso, zeigt sich bei den Studio-Kandidaten für die Lottomillion von ihrer einfühlsamen Seite, im Interview mit Kindern ebenso wie mit Erwachsenen. Dass sie daneben, wie Susanne Wille, ein Stück Schweizer Vielfalt verkörpert und die erwünschte Prise Humor einstreut, hilft weiter in der langen Preisverleihung. Die Glücksfee ist ein Glücksgriff.
Der Traum vom schnellen Reichtum
Sie ist unter anderem zuständig für die 50 Kandidaten (mit Begleitung) aus dem Volk, die – getrennt von den prominenten «geladenen Gästen» – an 50 Tischchen sitzen und auf das grosse Millionen-Glück für ihr Swiss-Los warten. Denn auch der Traum vom schnellen Reichtum muss gepflegt werden in unserem Land, und so wird sechs Mal eine Million verlost an diesem Abend. Fünf gehen hinaus an unsichtbare Gewinner irgendwo in der Schweiz, und eine Million geht an eine der glücklichen Losbesitzerinnen, die ausgelost worden sind für die Teilnahme am «Swiss Award», der ja auch «Millionen-Gala» heisst. Auch das ist ein Stück Schweiz. Es ist sozusagen die verkleinerte Schweizer Version des American Dream, denke ich.
Die vielen glamourösen Prominenten im Sektor der geladenen Gäste sind der lebendige Beweis dafür, dass Ruhm und Reichtum für alle erreichbar sind, und an den fünf Millionen-Gewinnern im Land und der einen Millionen-Gewinnerin im Saal wird das nun überdeutlich demonstriert. – Auch das läuft perfekt: die Glücksfee zieht im Hallenstadion von Zürich die goldene Kugel, und der Gewinn geht an das andere Ende des Landes, in die Suisse Romande, nach Genf. Die SRG SSR hat einmal mehr bewiesen, dass sie die Klammer ist für den Zusammenhalt der Schweiz.
Die adoptierte Schweizerin
Da ist noch eine dritte Frau, die Senegal-Schweizerin Bineta Diop, Preisträgerin «Gesellschaft», Gründerin und Direktorin von «Femmes Africa Solidarité». Gleichberechtigung der Frauen, Arbeit für den Frieden, Menschenrechte sind ihre grossen Arbeitsfelder. «Die Schweiz hat mich adoptiert», sagt sie in ihrer kurzen Rede, und sie erklärt, dass sie vom Zusammenleben der Sprachen und Kulturen in der Schweiz gelernt hat für ihre Arbeit in Afrika, wo die Kriege ein Ende nehmen müssen. Und die Schweiz, sagt Bineta Diop, ist der Staat, der auch anderen Staaten helfen will, mit der humanitären Hilfe und der Verwirklichung der Menschenrechte. – Die Menschen im Saal, die die Kamera zeigt, sind gepackt und berührt, und ich auch. Ich denke: Es ist grandios, wie ein Mensch, der von der Schweiz adoptiert worden ist, unser kleinmütiges Land mit einem grossen Lob an seine Werte erinnern kann. – Wie übrigens auch Jakob Kellenberger, IKRK-Präsident bis Ende 2012, der den «Swiss Award» für Politik erhält, und der sich, wie es seine Art ist, kurz und lapidar bedankt.
Die Glamour-Veranstaltung «Swiss Award» hat ein paar Seiten, die mir gefallen. Die Preisträger von Cecilia Bartoli bis zu den Freitag-Brüdern mit ihren nachhaltigen Taschen lösen in mir keinen Widerspruch aus, die Schweizer Musiker mit Krokus und Patent Ochsner an der (ganz subjektiven) Spitze gefallen, und der Hinweis und die Erinnerung an die nicht Nominierten und die grossen Verstorbenen von Maria Becker bis David Weiss öffnen den Blick; sie brechen die Blendung durch den schillernden Glanz des Abends. Der «LifeTime Award» für Adolf Ogi, selbstverständlich – die Standing Ovation bleibt verdient: ein Schweizer, der auf dem Boden steht und offen ist und bleibt für die Welt. Aber die eilige Ehrung darf für die Zukunft überdacht werden. Und der Schweizer des Jahres 2012? – Solange das Publikum abstimmt, mag es immer wieder sein, dass einer oder eine geehrt wird, einfach weil er oder sie schneller läuft, höher springt oder den Ball besser schlägt als andere. Sei’s drum, Cologna ist der Beste; ich sehe seinen schnellen Lauf auf den schmalen Brettern auch gerne. – Dass er dann allerdings nicht da ist, wenn er geehrt wird, ist ein bitterer Tropfen.
Der Kreis der Prominenz
»Swiss Award» zeigt ein Stück Schweiz. Es zeigt die Schweiz der etablierten Leistungsträger, des Show-Business, des Sports, und das Fernsehen bietet die Bühne, auf der sie einander ehren können.
Aber irgendwo, irgendwann hat sich jemand daran erinnert, dass es in der Schweiz einige Hunderttausend gibt, die ausserhalb des Scheinwerferlichts, ohne finanziellen Ertrag, ehrenamtlich, freiwillig, eine enorme Leistung erbringen, die die Schweiz zusammenhält. Und so haben die Veranstalter den «Swiss Award» für die «Helden des Alltags» geschaffen. Irgendwann, nach Ende der langen Sendung, fällt mir das wieder ein. Während der Sendung haben sie ein Filmchen eingespielt.
Und ich erinnere mich. Es war im Autoradio, auf dem Rückweg vom Langlaufen. Am Nachmittag, kurz nach 17 Uhr, im SRF-Radio, haben sie die Preisverleihung direkt übertragen. Vom Roten Teppich vor dem Hallenstadion. Nicht in der Halle. Nicht auf der grossen Bühne. Nein, draussen vor der Tür hat der Generaldirektor der SRG SSR, Roger de Weck, den Preis übergeben. Die Preisträgerin, Karin Boss-Röthlisberger, ist Chefin einer Spezialitäten-Metzgerei, Mutter, Hausfrau, und sie investiert viel Zeit in die Bewährungshilfe.
Vielleicht wäre das ein Stück zu viel Alltag gewesen, auf der Bühne, wo die Prominenten die Prominenten feiern. Vielleicht wäre der Schatten einer weniger glamourösen Schweiz hineingefallen in die Millionen-Gala. Vielleicht hätte das erinnert an ein weniger glanzvolles Stück der Schweizer Wirklichkeit. Aber vielleicht sprengt das den Rahmen eines «Swiss Award»?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor war in verschiedenen Funktionen bis 2004 Mitarbeiter von SRF und SRG .