Das journalistische Problem der Vorverurteilung
Für den Anwalt Christian von Wartburg, erfahrener Verteidiger in Strafrechtsprozessen, ist die Unschuldsvermutung ein wesentlicher Faktor für einen fairen Prozess. Dabei spielen die Medien mit ihrer Berichterstattung über Verbrechen und Gerichtsverfahren eine wichtige Rolle. «Schuldig?! Zwischen Unschuldsvermutung und Vorverurteilung» war das Thema eines Podiums im Rahmen der Ausstellung «Schuldig – Verbrechen. Strafen» im Historischen Museum Basel.
Der Anwalt von Wartburg und der Journalist Mathias Ninck, Redaktor beim «Magazin», in welchem er oft über die Gerichtswelt schreibt, waren sich in der Diskussion einig: An die Gerichtsberichterstattung seien hohe Ansprüche zu stellen. Es genüge nicht, aus einer Anklageschrift eine Story herauszufiltern, man müsse auch das Plädoyer der Verteidigung berücksichtigen und noch besser das Urteil und seine Begründung.
Solche Anforderungen an den Journalismus scheinen selbstverständlich zu sein. Sind es aber nicht. Dazu soll ein Beispiel aufgerollt werden, welches schon acht Monate zurückliegt. Dass nicht schon früher darüber publiziert werden konnte, hat mit der spezifischen Sensibilität im Umgang mit Gerichtsfällen zu tun: Es gab und gibt Rücksicht zu nehmen auf Richter, die zu Hintergründen nichts sagen dürfen, auf das Anwaltsgeheimnis und auf den Schutz von Klägerin und Angeklagtem.
Die Geschichte in Kürze:
In der Basler Zeitung wird am 29. März mit 3373 Zeichen und einem grösseren Bild über einen Fall berichtet, zu welchem am gleichen Tag der Prozess stattfindet. Wie das die Basler Gerichtsordnung ermöglicht, konnte der am Gericht akkreditierte Journalist Mischa Hauswirth (BaZ) vorgängig zum Prozess Einsicht in die Anklageschrift nehmen. Ohne den Prozess abzuwarten, nutzt Hauswirth die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft zu einem Text, der auf eine Vorverurteilung hinausläuft: «21-Jährige in einer Bar vergewaltigt» titelt die BaZ, «Heute beginnt der Prozess vor dem Strafgericht gegen einen 30-jährigen Türken» steht im Lead. Dann schildert Hauswirth den Tathergang gemäss der Anklageschrift bis in Details. Die Beschreibung vermittelt dem Leser den Eindruck, die Tat wie beim TV-Krimi selbst zu beobachten. Im Text gibt es keine Zweifel, dass die Tat so stattgefunden habe und der Täter schuldig sei. «Dem Mann droht bei einer Verurteilung eine Haftstrafe nicht unter drei Jahren.» Mit diesem Satz endet der BaZ-Artikel, auch die übliche Formel «Es gilt bis zum Urteil die Unschuldsvermutung» fehlt.
Ein Pseudonym, das nicht neutral ist – nicht neutral sein will
Für den Angeklagten kommt erschwerend dazu, dass der Text zwar ein Pseudonym («Mohammed»!) für den Täter verwendet, aber der Angeklagte ist über die Beschreibung als «Türke, 30 jährig» und «Geschäftsführer» der im Text namentlich erwähnten und auf einem Bild gut erkennbaren Bar in der Basler Innenstadt leicht identifizierbar.
Der Journalist ist am Prozess nicht anwesend
Am Prozess selbst ist Mischa Hauswirth nicht anwesend und auch kein anderer Gerichtsberichterstatter der Basler Zeitung. Der Prozess endet mit einem Freispruch. Die Basler Zeitung vermeldet diesen am Folgetag in einer klein aufgemachten Kurzmeldung von 450 Zeichen: «Freispruch vom Vorwurf der Vergewaltigung». Der Angeklagte sei gemäss Antrag der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung «in dubio pro reo» freigesprochen worden. Die Formulierung «in dubio pro reo» ist eine Standardformulierung, erweckt in diesem Kontext aber den Eindruck, es handle sich um einen Freispruch zweiter Klasse. Dies, weil die Zeitung die Argumentationen aus dem Prozess nicht berücksichtigt.
Der Anwalt des Angeklagten, Dr. Stefan Suter, kommentierte die Berichterstattung der BaZ gegenüber Edito +Klartext so: «Dies macht den Eindruck, als habe die Zeitung Interesse an einer schlimmen Vergewaltigungsgeschichte und einer entsprechend hohen Verurteilung. Der Freispruch passt dann offenbar nicht mehr zur geplanten Story eines schlimmen Verbrechens. Das ist das Gegenteil einer seriösen Berichterstattung.» Anwalt Suter bezeichnete den BaZ-Artikel als «eine einseitige Vorverurteilung des Angeklagten». Auch andere im Prozess involvierte Personen hätten sich am Verhalten des BaZ-Journalisten gestört.
»Vorverurteiling» ist «zu unterlassen»
Beim Basler Gericht gelten für akkreditierte Journalisten mit privilegiertem Zugang zu Unterlagen und Verhandlungen «Medienrichtlinien». Artikel 3 formuliert: «Bei Nennung von Namen ist grosse Zurückhaltung zu üben, soweit sich die Betroffenen nicht ausdrücklich damit einverstanden erklärt haben. Auch ist jede Art von Vorverurteilung, unnötiger Blossstellung oder suggestiver Berichterstattung zu unterlassen.» Und Artikel 10 sagt: «Akkreditierte Medienschaffende, die gegen diese Richtlinien verstossen, können durch die bzw. den Medienbeauftragte/-n des Appellationsgerichts verwarnt oder für eine gewisse Zeit suspendiert werden. In schweren Fällen kann die Akkreditierung entzogen werden.»
Offenbar hat das Gericht Basel-Stadt gegenüber dem BaZ-Journalisten reagiert, sagt aber nicht, was dabei herausgekommen ist. Die Medienbeauftragte des Gerichts, Gabrielle Kremo, beschränkt sich auf diese Aussage: «Auf Ersuchen des Strafgerichts hat sich die Medienbeauftragte des Appellationsgerichts mit der Angelegenheit befasst und die Frage geprüft, ob die in Frage stehende Berichterstattung unter Berücksichtigung der anwendbaren Medienrichtlinien korrekt gewesen ist. Zu welchem Schluss die Medienbeauftragte des Appellationsgerichts bei dieser Prüfung gelangt ist und ob daraus folgende Schritte unternommen worden sind, gibt das Appellationsgericht nicht bekannt, weil sich der betroffene Journalist bzw. dessen Anwalt mit der Erteilung einer solchen behördlichen Auskunft nicht einverstanden erklärt hat».
Die Medienbeauftragte bestätigt damit, dass das Strafgericht sie ersucht hatte, sich mit der Angelegenheit zu befassen. Und sie ergänzt im Email an Edito +Klartext: «Ich möchte klarstellen, dass nicht das Appellationsgericht keine Auskünfte erteilen will, sondern dass unser Vorgehen auf die Haltung von Herrn Wagner (Anwalt der BaZ, Red.) zurückzuführen ist.»
Martin Wagner verhinderte Transparenz
Erstaunlicherweise versucht also der Anwalt des Medienhauses hier zu verhindern, dass das Gericht gegenüber Medien Auskünfte erteilt. Unverständlich ist auch, dass die Medienbeauftragte – die innerhalb einer rechtsstaatlich ergangenen kantonalen Verordnung handelt – sich eine sachgerechte Information derart unterbinden lässt. Die Durchsetzung von Art. 10 der «Medienrichtlinien» bedingt doch geradezu, dass begründete Rügen allermindestens auf Anfrage bestätigt werden. Das gehört meines Erachtens zur verfassungsmässigen Gerichtsöffentlichkeit, die ja heute laut Bundesgericht auch Strafbefehle und Einstellungsverfügungen erfasst.
Der Schreib-Täter schweigt
Selbstverständlich hat Edito +Klartext auch den betroffenen Journalisten Mischa Hauswirth um eine Stellungnahme angefragt. Geantwortet hat BaZ-Anwalt Martin Wagner – und ist dabei gleich in die Offensive gegangen: «Ich ersuche Sie, in dieser Sache korrekt vorzugehen und die zuständigen Behörden nicht zu unberechtigter Informationsherausgabe zu verleiten. Die betreffenden Behörden haben insbesondere nicht über Sie eine Anfrage an uns betreffs Aktenherausgabe zu lancieren. Wir werden jede Verletzung von Rechtsvorschriften ahnden, dies gilt auch im Falle von Persönlichkeitsverletzungen gegenüber dem verantwortlichen Journalisten.»
Erstaunlich sind auch die weiteren Ausführungen von Anwalt Wagner gegenüber Edito +Klartext. Er betrachtet den Artikel der Basler Zeitung nicht als Vorverurteilung und bestreitet auch, dass der Journalist hätte am Prozess anwesend sein müssen: «Ich weiss nicht, woraus Sie eine Prozessanwesenheitspflicht für Journalisten herleiten…». Wagner geht aber noch einen Schritt weiter und zweifelt auch nach dem Gerichtsurteil an der Unschuld des Angeklagten: «Zudem haben Sie übersehen, dass der Angeschuldigte nicht aufgrund von Entlastungsbeweisen freigesprochen wurde, sondern lediglich «in dubio pro reo». Es bleiben also erhebliche Zweifel an seiner Unschuld. (….). Oder denken Sie wirklich, die Anklageschrift sei im vorliegenden Fall frei erfunden???»
»Inakzeptable Schulmeisterei»?
Das Rechtsverständnis von Anwalt Wagner steht hier nicht zur Diskussion. Gegenüber der These von Edito +Klartext («Missachtung von grundsätzlichen journalistischen Regeln» im BaZ-Text) reagiert Martin Wagner mit einer erstaunlichen Aussage: «Diese Vorwürfe sind verfehlt, und ich betrachte Ihre Anwürfe als inakzeptable Schulmeisterei, da Sie sich im Nachhinein offensichtlich zum Anwalt des Angeschuldigten machen.»
Zurück zur Frage der Unschuldsvermutung: in einem gänzlich der Anklage gewidmeten Vorbericht ist das allermindeste Gegenmittel zur Vorverurteilung die explizite Erwähnung der Unschuldsvermutung. Sie ist verknüpft mit dem Anspruch nach einer fairen Gerichtsberichterstattung. Die Ausführungen des BaZ-Anwaltes Martin Wagner legen nahe, dass der Text von BaZ-Journalist Mischa Hauswirth nicht ein einmaliger Ausrutscher war, sondern Ausdruck einer Haltung des Redaktors ist. Ich meine, einer journalistisch falschen Haltung.
Gegenseite muss angehört werden
Der Kodex des Presserates verbietet beispielsweise nicht nur die identifizierende Berichterstattung bei heiklen Gerichtsfällen, sondern verlangt auch, dass die Gegenseite bei schweren Vorwürfen angehört werde. Auch die Medienrichtlinien der Gerichte Basel-Stadt verlangen eine sachliche Berichterstattung und die Rücksichtnahme auf die schutzwürdigen Interessen der Beteiligten. Wenn die heutige Praxis in den meisten Kantonen anders als früher das «Ausweiden» einer Anklageschrift in einem Vorbericht zulässt, so muss der Journalist mindestens anmerken, dass die Unschuldsvermutung bis zum Erlass eines rechtskräftigen Urteils gilt. Zweifellos läuft die öffentliche und einseitige Zitierung aus einer Anklageschrift auf einen schweren Vorwurf heraus. Zu Wort gekommen ist die beschuldigte Seite hier nicht. Sie müsste mindestens mitteilen können, dass sie die Vorwürfe der Anklage ganz oder teilweise zurückweist.
Über die Argumente des Freispruchs erfährt der Leser nichts
Wenn die Basler Zeitung schon die Anklageschrift breit darstellt, wäre ein echter Prozessbericht einschliesslich Erwähnung der Verteidigerargumente angebracht. Auch der Journalistenkodex verlangt klar, der Freispruch müsse in einem «angemessenen Verhältnis zu vorausgegangenen Beiträgen stehen». Mir scheint in diesem Fall das Missverhältnis zur breiten Schilderung der Anklageschrift eindeutig. Über die Argumente am Prozess erfährt die Leserschaft nichts, auch nicht zum hier wichtigen Element, warum sogar die klagende Staatsanwaltschaft entgegen der Anklageschrift schliesslich auf Freispruch plädierte. In der Öffentlichkeit läuft eine solche Berichterstattung auf eine Vorverurteilung und von der Wirkung sogar auf eine Verurteilung des Angeklagten hinaus. «Die Medien sind bei Gerichtsprozessen nicht die Richter,» sind sich Anwalt Christian von Wartburg und Journalist Mathias Ninck einig.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Artikel wurde für die Zeitschrift Edito +Klartext geschrieben, dessen Chefredaktor der Autor ist.
Ein beunruhigender Fall und eine zugleich hervorragende Warnung an die Leserschaft von Presserzeugnissen. Immerhin ist noch darauf hinzuweisen, dass auch Artikel-Leser in einer Demokratie die Pflicht hätten solchen Artikeln die vor Gerichtsverhandlungen pubiziert werden und die zudem Schuldäusserungen enthalten, zu relativieren.
Noch ein Hinweis in eigener Sache bezüglich Vorverurteilung und journalistischer Sorgfaltspflicht. Im Sozialversicherungsrecht gilt diese «in dubio pro reo» nämlich nicht. Das heisst jemand der Krank ist muss beweisen können dass er krank ist, wenn er zum Beispiel IV beanspruchen will. In ca. der Hälfte aller Fälle ist der Beweis dazu aber nicht möglich, das heisst man wird von Aussagen von Gutachtern der IV vollkommen abhängig. Ein Journalist könnte im Gegensatz zum vorliegenden Fall jederzeit behaupten -der klagende Versicherte sei vermutlich gar nicht so krank wie er sagt. Bei psychiatrischen Fällen hätte z.B. die Baz also jederzeit freie Hand die Öffentlichkeit gegen einen «angeblich» kranken «Türken» vor der Gerichtserhandlung aufzuhetzen. Um die Sozialversicherungsverfahren nicht völlig unfair zu gestalten, hatten die Gerichte in der Vergangenheit die sogenannten Försterschen Kriterien eingeführt -eine Art Wahrscheinlichkeitskatalog um Simulanten auszufiltern. Nun scheint man aber auch davon abzurücken, denn gemäss einer Studie gelte: «Die Überwindbarkeits-Vermutung und die «Foerster-Kriterien» definieren ein normatives Anforderungsprofil, das nicht auf sachlichen Gründen im Sinn der Strassburger Rechtsprechung basiert.» Wird dies nun umgesetzt wie zu befürchten, so dürften noch ein paarTausend IV-Rentner zusätzlich über die Klinge springen, praktisch jede Form psychisch erkrankter Menschen -da natürlich in dubio pro reo im Sozialversicherungsrecht umgekehrt zu Gunsten von Presse und IV gilt.
Artikel die sich auf journalistische Berichterstattung und Justiz beziehen sind extrem selten, ich danke Herrn Cueni für diese Botschaft auf Infosperber.
Der geschilderte Fall ist kein Einzelfall. Bereits früher ist die Gerichtsberichterstattung des Journalist Mischa Hauswirth entsprechend aufgefallen. In der Basler Zeitung vom 26.4.2011 hat Hauswirth mit dem Titel ‚Sex-Vorwürfe gegen Basler Heimleiter‘ einen ähnlich tendenziösen Artikel verfasst und dabei wahrscheinlich die journalistische Sorgfaltspflicht verletzt. Diese Meinung vertrat jedenfalls der Verein Soziale Unternehmen beider Basel (SUbB), weshalb er im Herbst 2011 an den Presserat gelangte. Aus formalen Gründen konnte der Presserat leider auf die Beschwerde nicht eintreten, da die Beschwerde zu spät erfolgte (http://presserat.ch/_64_2011.htm). Die Folge: Eine fachliche Beurteilung des Artikels und die damit verbundene Diskussion in den Fachkreisen unterblieben damals.
Philipp Cueni und InfoSperber hat das Thema nun an einem weiteren Beispiel erneut aufgegriffen. Dem Schweizer Journalismus ist zu wünschen, dass die Problematik ernst genommen und diskutiert wird. Die Gerichte wiederum stehen doppelt in der Pflicht. Einerseits dürfen sie die Berichterstattung nicht behindern. Es ist deshalb erfreulich, wenn ein Gericht den Journalisten bei der Berichterstattung unterstützt. Anderseits muss das Gericht, wenn es glaubwürdig bleiben will, beim kleinsten Verdacht des Missbrauchs journalistischer Privilegien einschreiten. Denn versäumen die Gerichte hier einen Mittelweg zu suchen und zu finden, dann kann dies für die Gesellschaft verheerend sein. Die Geschichte kennt dazu einige unerfreuliche Beispiele. Denn auch wenn in einem Rechtsstaat die Transparenz und somit die Medienberichterstattung fundamental ist, darf diese niemals zum Spielball einseitiger Einflussnahme und Manipulation werden. Dies gilt auch für ein Land wie die Schweiz.
Es wäre falsch die erwähnten Artikel isoliert zu betrachten, oder als Werk eines einzelnen Journalisten. Denn der Artikel ist nicht einfach in irgendeiner Schweizer Zeitung erschienen, sondern in der Basler Zeitung. Diese Tageszeitung ist in der letzten Zeit nicht gerade mit Qualitätsjournalismus positiv aufgefallen. Diese Tatsache muss bei der Diskussion ebenfalls berücksichtigt werden.