«Zum Heidi-Land macht sich die Schweiz selber»
Herr von Matt, was ist das Besondere an unserem Verhältnis zu Deutschland?
Peter von Matt: Es ist vielschichtig, und es ist nie richtig geklärt worden. Ich frage mich seit Jahren, warum es von der Schweiz aus keine gezielte Nachbarschaftspolitik mit den nahegelegenen deutschen Bundesländern und Städten gibt. Dabei kennt man sich gegenseitig viel besser, als die Medien erkennen lassen. Der Europapark Rust ist heute der grösste Wallfahrtsort der Schweizer Kinder. Die deutsche Fernseh-Unterhaltung läuft vor jedem Schweizer Sofa. Die Schweizerinnen und Schweizer verstehen das deutsche Hochdeutsch heute so gut, wie es in der Schweiz noch nie verstanden wurde. Kulturell und wirtschaftlich, auch in den Wissenschaften ist die Schweiz mit Deutschland tausendfach verbunden. Aber das wurde nie in freundliche Bilder und Denkfiguren übersetzt. Es dominiert die Phantasie von den Deutschen als den ganz Andern, denen von Drüben und Draussen, auch wenn man in gefüllten Bussen an die deutschen Weihnachtsmärkte fährt. Auch solche negativen Phantasien zeugen von einem Defizit der Nachbarschaftspolitik.
Hinter dem Nein zum Steuerabkommen steckt der Vorwurf einer Schweiz als Rosinenpickerin. Sind die Deutschen neidisch?
Neben der Tatsache, dass man sich in Deutschland für die Schweizer Politik kaum interessiert, gibt es immer noch eine grosse Bewunderung für die Schweiz. Die masslos hohen Preise in der Schweiz werden allerdings weniger bewundert. Ich habe in jüngster Zeit mehrfach gehört, man könne sich ein Wochenende in Zürich nicht mehr leisten. Das betrifft allerdings auch Schweizer. Ich überlege mir inzwischen dreimal, ob ich einen Kaffee trinken gehe. Es ist auch mir zuwider, mit jedem Schluck Espresso einen Zweifränkler zu verschlucken.
Und die Rosinenpicker?
Das ist eine plakative Formel für die Haltung der Schweiz zur EU. Die Formel ist ungerecht, aber auch nicht ganz aus der Luft gegriffen. Die Schweiz will tatsächlich von der EU soweit wie möglich profitieren und so wenig wie möglich Mitverantwortung übernehmen. Das ist ihr gutes politisches Recht und wird vom Volk auch so verlangt. In der deutschen Wahrnehmung wird das dann rasch zum Klischee der eigensüchtigen Rosinenpickerei. Es steckt in dem Bild aber auch eine Wahrnehmung, die nicht ganz falsch ist, dass nämlich die Schweiz nicht eingestehen will, wie stark sie mit dem ganzen europäischen Kontinent eine Schicksalsgemeinschaft bildet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg galt die Schweiz in Deutschland als heiles Heidi-Land – ein Trugbild?
Zum Heidi-Land macht sich die Schweiz vor allem selbst. Die Werbung ist inzwischen in einer geradezu neurotischen Weise auf dieses Heidi fixiert. Ich muss in der Migros lange suchen bis ich einen Käse finde ohne dieses Meitli drauf. Nach dem Krieg war die Schweiz für das zerbombte, tief verunsicherte Deutschland das Beispiel, wie man selbst einmal war und wieder werden wollte. Daraus entstand die Grundsympathie, die es heute noch gibt und die die Schweizer nicht wahrhaben wollen.
Die deutsche Schuld prägte während Jahrzehnten den Umgang mit Europa und der Schweiz. Jetzt nicht mehr?
Von den Tätern der Nazi-Zeit lebt kaum einer mehr. Der Krieg ist nur noch den Ältesten in persönlicher Erinnerung. Deutschland hat sich seiner Vergangenheit ernster und kompromissloser gestellt als alle andern Länder, die ebenfalls Mitschuld an der Ermordung der jüdischen Frauen, Männer und Kinder trugen. Seit der Wende hat sich in Deutschland wieder ein neues, freieres Verhältnis zur eigenen Geschichte entwickelt. Das geht langsam, ist aber ein spannender Prozess. Das jüngste Beispiel ist die neue Art, mit Friedrich dem Grossen umzugehen. Er wird nicht mehr plakativ gleichgesetzt mit dem deutschen Militarismus, sondern in seiner Komplexität als Aufklärer, Philosoph, Künstler, Politiker und Stratege studiert. Dadurch hat sich auch ein neues unverkrampftes Selbstbewusstsein entwickelt.
Heute pflegen Haudegen wie Peer Steinbrück eine barsche Rhetorik. Das vertragen die Schweizer schlecht.
Ich könnte Ihnen ein paar Schweizer nennen, die eine ebenso ungewaschene Sprache sprechen.
Die Schweiz fühlte sich mit ihrer direkten Demokratie und Neutralität stets auf der Seite der Guten – und reagiert pikiert auf Kritik?
Das ist zu einfach gesagt. Die Schweiz ist ein vernünftiges Land und praktiziert durchaus auch die Selbstkritik. Aber sie hat ein Problem: Sie weigert sich seit Jahrzehnten, die Differenz zwischen ihrem Selbstbild und ihrem Bild in der Welt zu anerkennen, darüber nachzudenken und die Konsequenzen zu ziehen. Diese Differenz begann gleich nach dem Krieg, als die Schweiz bei den Siegermächten sehr schlecht dastand. Sie hat es 1946 mit Hilfe einer genialen Diplomatie verstanden, sich mit hohen Geldzahlungen aus der Affäre zu ziehen. Das gelang aber nur deshalb, weil der Kalte Krieg begann, und die Westmächte die Schweiz in ihr Abwehrdispositiv einbeziehen wollten. Als der Kalte Krieg zu Ende war, dauerte es nicht lange, bis die Debatte um die Gold-, Geld- und Flüchtlingspolitik der Schweiz vor 1945 wieder ausbrach, zuerst im Zusammenhang mit den nachrichtenlosen Vermögen. Das hätte man voraussehen können.
Hat die Schweiz verlernt, mit Gegnern umzugehen?
Die Schweiz hat keine Feinde, aber sie gerät wie jedes Land in Interessenkonflikte, die man zunächst als solche anerkennen muss. Wenn man gleich schreit: Feinde! Gegner! Bösewichte! ist das sachfremd und kontraproduktiv. Man kann zwar innenpolitisch Kapital daraus schlagen, aber das ist keine Lösung. Viele vernünftige Lösungen werden heute in der Schweiz durch innenpolitische Querelen und deren Lärmpegel verhindert.
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Peter von Matt (75) ist in Stans aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte in Zürich und habilitierte 1970 mit einer Arbeit über E.T.A. Hoffmann. Von 1976 bis 2002 lehrte er als Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Uni Zürich. Er ist unter anderem Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt, der Sächsischen Akademie der Künste und der Akademie der Künste in Berlin. Für seine zahlreichen Publikationen erhielt er mehrere Auszeichnungen, für sein letztes Buch «Das Kalb vor der Gotthardpost» den Schweizer Buchpreis 2012.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine. Gekürzte Fassung eines Interviews, das zuerst in der "Südostschweiz am Sonntag" erschienen ist.