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Revolte in Tunesien: Es ging wesentlich auch um materielle Not © mm

Erich Gysling: Aufstände gegen Korruption (2)

Erich Gysling /  Arabische Autokraten stützten ihre Regime mit Geschenken an die Militärs und die Oberschicht. Die Preise stiegen, die Löhne sanken.

Die arabische Revolution oder die Arabellion oder der arabische Frühling, wie immer wir das benennen, hat grosse Schwächen in den Strukturen der arabischen Gesellschaften offen gelegt. Die demografische Entwicklung hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Regime in den verschiedenen Ländern die Auswirkungen ihrer Klientelwirtschaft und einer grassierenden Korruption zu spüren bekamen.

Lebensunwürdige Lebensbedingungen

Bezeichnenderweise begann die Arabellion mit einer wirtschaftlich begründeten Verzweiflungstat eines Einzelnen: Der 26-jährige Tunesier Mohammed Bouazizi überschüttete sich am 17. Dezember 2010 in der Stadt Sidi Bouzid mit Benzin und brachte sich so lebensgefährliche Verbrennungen bei. Es war ein entsetzlicher Aufschrei gegen die menschenunwürdigen Lebensumstände in seinem Land, für die sein eigenes Schicksal typisch war: Bouazizi hatte Informatik studiert, erhielt in seinem Beruf keinen Job, schlug sich als Gemüse- und Obstverkäufer mit einem Handwagen durch, und als die Polizei ihm dieses Gefährt beschlagnahmte, suchte er den Tod. Im Januar starb er – ohne dass er wissen konnte, was danach folgen sollte: Eine Welle von Protesten, von Aufständen gegen die Herrscher in den arabischen Ländern, von Tunesien quer durch Nordafrika, weiter nach Syrien, Bahrain, Jemen und sporadisch auch in andere Länder des Nahen und des Mittleren Ostens.

Wirtschaftliche Not als Auslöser

Die wirtschaftliche Not breiter Schichten in der Bevölkerung vieler arabischer Länder war der auslösende Faktor für die Volkswut. Das Schicksal des tunesischen Gemüsehändlers Bouazizi schien dafür fast modellhaft: Jung, gute Ausbildung, aber ohne Chancen auf einen qualifizierten Job und Aufstiegsmöglichkeiten. In allen Ländern der nah- und mittelöstlichen Region, mit Ausnahme der ölreichen Golfstaaten, erreichte die Arbeitslosigkeit bei der Generation unter 25 Jahren im Durchschnitt zwischen 25 und 40 Prozent. Heute liegt sie noch um einiges höher.
Dafür machten die Jugendlichen, und nicht nur sie, jetzt mehr und mehr die Herrschenden verantwortlich. Sie wiesen darauf hin, dass die Autokraten dafür sorgten, dass eine kleine Schicht von Reichen immer noch reicher wurde, dass der Mittelstand ständig verlor und dass die bereits Armen noch etwas ärmer wurden. Präsidenten wie Mubarak in Ägypten oder Ben Ali in Tunesien hatten sich die Gunst der Oberschicht und der Generäle durch die Vergabe von Konzessionen erkauft und durch das Zuschanzen von lukrativen Geschäften. Die Preise für Konsumgüter stiegen, die Löhne stagnierten, die Arbeitslosigkeit wurde nicht geringer.

Wirtschaftliche Vorteile gegen Gefügsamkeit

In Libyen begünstigte Muammar al-Ghaddafi einflussreiche Stammeschefs und Karrieristen in den Sicherheitsdiensten und dem Militär. Wer sich bedingungslos zur Ideologie des obersten Chefs bekannte, erhielt einen Job, ein Haus etc. Wer sich der Staatsdoktrin verweigerte, wurde benachteiligt und allenfalls auch strafrechtlich verfolgt.
In Syrien traten Hunderttausende der Baath-Partei von Präsident Assad bei, um überhaupt irgendwelche Aufstiegsmöglichkeiten zu bekommen. Fast alle Rektoren, Richter, Generäle und auch die grosse Mehrheit der sonstigen höheren Offiziere liessen sich als Mitglieder der Baath-Partei registrieren – wer das nicht tat, wurde von höheren Ämtern ausgeschlossen.

Herrschende für die wuchernde Korruption verantwortlich gemacht

Ein wesentliches Element im Wirtschaftsgefüge war die allgegenwärtige Korruption. Wer von einer Polizeidienststelle etwas verlangte, bei den Polizisten wegen erlittenen Unrechts vorstellig wurde, musste im Voraus zahlen. Wer in einem staatlichen Krankenhaus eine gute Behandlung erwartete, musste ebenfalls Geld hinlegen. Korruption durchzog alle Gesellschaften und alle Gesellschaftsschichten. Lange Zeit wurde das murrend akzeptiert – jetzt machten die Bürgerinnen und Bürger dafür in erster Linie die obersten Herrscher verantwortlich.

Zensur und politische Manipulation und Repression
Als zweites Element kam die Frustration als Folge der politischen Manipulationen hinzu. Die Regime liessen zwar in den meisten Ländern Wahlen durchführen, aber das Resultat war immer schon im Voraus absehbar. Denn die Regierenden sorgten dafür, dass nur ihnen selbst genehme Kandidaten oder Kandidatinnen antreten konnten, sie siebten die Namen der Zugelassenen nach eigenem Gutdünken aus und garantierten so die «Kontinuität». Gepaart wurde dieses Verhalten mit Repression, die von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägt war. Zur Repression gehörte die Zensur der Zeitungen, des Radios, des Fernsehens und die Eingriffe in die Internet-Informationen.

Wichtige Rolle der Geheimdienste
Weshalb konnten sich die autoritären Herrscher überhaupt so lange an der Macht halten? Die Autoritätsgläubigkeit der Untertanen spielte eine wesentliche Rolle. Mindestens ebenso wichtig aber war in allen Ländern der Aufbau der Geheimdienste durch die Autokraten. Ergänzt wurden die Geheimdienstaktivitäten durch Spezialeinheiten der Polizei. Beiden gemeinsam war, dass ihre Mitarbeiter meistens zivil, unauffällig auftraten und so die Gesellschaft von innen her observierten.

Junge und Frauen wagten sich vor

Die Proteste begannen als Teil einer Bürgerbewegung. Mehrheitlich, aber nicht ausschliesslich, war die junge Generation an der Spitze der Demonstrationen. Auch Frauen nahmen in grosser Zahl an den Kundgebungen teil, besonders in Tunesien und Ägypten. Die Religion spielte anfänglich keine Rolle, aber das änderte sich im Verlauf des Jahres. Als die Präsidenten Mubarak in Ägypten und Ben Ali in Tunesien verjagt waren, begannen auch muslimische Interessengruppen ihre Anliegen vorzubringen. Zu Recht, wie ihre Anhänger meinten – schliesslich konnte man davon ausgehen, dass sehr viele Menschen in Ägypten mit den Muslimbrüdern sympathisierten. Also forderten die Muslimbrüder jetzt auch die Beteiligung am politischen Leben, was ihnen Mubarak und Ben Ali verweigert hatten.

«Demokratie» innerhalb der Shari’a-Ordnung

Nun will zwar nicht jede muslimische Organisation der Gesellschaft ihr eigenes Modell von Wertevorstellungen aufzwingen. Es gibt muslimische Kreise, welche die Koexistenz mit einer laizistischen Ordnung anstreben; es gibt andere, die innerhalb des betreffenden Landes die Dominanz etwa beim Zivilrecht beanspruchen; es gibt wieder andere, die strikt auf der Beachtung der Shari’a, also des islamischen Rechts, bestehen. Dieses islamische Recht wird allerdings von einer Denkschule zur anderen unterschiedlich ausgelegt.
Auch die islamischen Organisationen, das betonten ihre Repräsentanten immer wieder, wollten die autokratischen Systeme durch demokratische Ordnungen ersetzen. Aber unter Demokratie verstanden und verstehen sie nicht das Gleiche wie Menschen in Europa: Die islamischen Gesetze seien zwar grundlegend, doch innerhalb des Shari’a-Gesetzeskörpers gebe es viele Möglichkeiten für freie Interpretation, und so sei Demokratie durchaus möglich, ja wünschbar. Nicht das Individuum stehe aber in einer Demokratie in der islamischen Welt im Vordergrund, sondern Gott stehe im Zentrum, sagte beispielsweise der Chef der tunesischen al-Nahda oder «Renaissance»-Partei, Rashid al-Ghannouchi.

Die Rolle der Medien

In allen Ländern, in denen die «Arabellion» abrollte, spielten die Medien eine wesentliche Rolle. Wer eine Kundgebung organisieren wollte, gab das auf Facebook oder Twitter bekannt. Ort und Zeitpunkt wurden so definiert, oft auch die Ziele. Pläne und Ideen verbreiteten sich so blitzschnell. Hinzu kamen Erfahrungsberichte von Aktivisten, die von der Polizei oder den Geheimdiensten verfolgt wurden – und das Internet ganz allgemein sowie die mobile Telefonkommunikation. Auch der Fernsehsender al-Jazeera hatte bei der Verbreitung der Informationen eine wichtige Rolle: Reporter und Reporterinnen des in Qatar stationierten Senders berichteten dichter als europäische oder US-Stationen über die Demonstrationen, die Konflikte, die Prozesse gegen entmachtete Herrscher wie Mubarak und Ben Ali, und dies in der eigenen Sprache, dem Arabischen.
Rücksichten und Abhängigkeiten in Bezug auf Jemen und Bahrain
Die Reporter von al-Jazeera, auch deren Redaktion, machten von Anfang an klar, dass sie an den Erfolg des Umbruchs glaubten. Sie berichteten wohlwollend über die Aufständischen in Libyen, sehr kritisch über Ghaddafi und dessen Getreue. Sie favorisierten in Ägypten und Tunesien die Opposition gegen die verkrusteten Herrscher-Systeme. Über Jemen war die Berichterstattung eher von Zweifeln durchzogen: Würde der Sturz von Präsident Saleh möglicherweise zu totalem Chaos führen? Zurückhaltend war al-Jazeera bei den Berichten aus und über Bahrain. Weshalb? Weil die Führung Qatars, von deren Wohlwollen al-Jazeera teilweise abhängig war, keinen Umsturz im nahe gelegenen Bahrain wünschte. Und weil auch Saudia-rabien dies nicht wollte.
Falsche Einschätzung im Westen

Im Westen herrschte beim Beobachten der «Arabellion» lange Zeit die Meinung vor: Wer jung ist und sich der neuen Medien bedient, der oder die wird ja wohl auch politisch und gesellschaftlich alles Neue akzeptieren. Doch da irrte man: Meinungsumfragen belegten, dass die junge Generation als wichtigstes, aber nicht einziges Element in der Bewegung oft konservativer denkt als die ältere. In Ägypten und Jordanien sagten mehr junge Leute als ältere, sie seien für Strafen nach alter islamischer Gewohnheit, beispielsweise: der Mann dürfe die Frau schlagen, wenn sie nicht gehorche, und Dieben sollte man eine Hand abhacken.

Es folgt Teil 3: «Westlicher Ruf nach Demokratie tönt unglaubwürdig»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Erich Gysling, früherer Chefredaktor von TV DRS und Leiter von Rundschau und Tagesschau, jetzt Chefredaktor des in sechs Sprachen erscheinenden Buchs "Weltrundschau", spezialisierte sich als Journalist auf den Nahen Osten. Nach einem Arabisch-Studium publizierte er drei Bücher über die Beziehungen zwischen der mittelöstlichen und der westlichen Welt. Er bereist die Region (inklusive Iran) weiterhin regelmässig.

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