Warum die Produktivität des Konsum sinkt (1)
Man stelle sich vor: Ein Unternehmer will in den Schweizer Transportmarkt einsteigen. Dazu kauft er einen grossen Sattelschlepper mit einem zulässigen Gesamtgewicht von 80 Tonnen. Weil der neue Super-Lastwagen teuer ist, möchte der Unternehmer ihn schonen. Also setzt er ihn nur während einer Stunde pro Tag ein. Und für diese Stunde belädt er den 80-Tönner achtsam mit nur acht Tonnen Fracht.
Diesen Transportunternehmer gibt es nicht. Oder er lebt im Irrenhaus. Produzenten im Transportgewerbe, die wissen nämlich: Das zulässige Gesamtgewicht auf Schweizer Strassen ist auf 40 Tonnen begrenzt. Darum setzen sie keine 80-Tönner ein. Ihre 40-Tönner aber laden sie voll. Sie lassen diese so lange fahren, wie es die Ruhezeit-Regelung für ihre Chauffeure erlaubt – zuweilen noch etwas länger. Und sie sorgen dafür, dass sie sowohl auf der Hin- als auch auf der Rückfahrt Fracht befördern können. Denn angesichts der hohen Fixkosten wollen sie einen möglichst hohen Nutzen pro Einsatzstunde erzielen.
Konsumproduktivität sinkt Richtung Nullnutzen
Bleiben wir beim Transport, aber wechseln von der Produktion zum Konsum. Vier von fünf Haushalten verfügen über ein Auto, viele davon sogar über ein Zweit- oder Drittauto. Die heute verkauften Personenwagen erreichen Spitzengeschwindigkeiten von 160 bis 250 Stundenkilometer, obwohl das Tempo auf Schweizer Autobahnen auf 120 limitiert ist. Das Durchschnittsauto, so zeigen Erhebungen, fährt täglich eine Stunde; es liegt also 23 von 24 Stunden brach. Und wenn es fährt, befördert es durchschnittlich nur 1,4 Personen von A nach B. Die menschliche Fracht wiegt damit weniger als ein Zehntel der mobilen Verpackung.
Eine Konsumentin, die etwas kauft, das sie in 23 Stunden pro Tag nicht braucht, kommt nicht ins Irrenhaus. Ein Konsument, der ein Produkt wählt, das doppelt soviel leisten kann, wie die Polizei erlaubt – ein solcher Konsumentin ist der Normalfall.
Es ist paradox: Als Produzent – ob als Unternehmerin oder Angestellter – steigern wir unsere Produktivität stetig, zuweilen bis zum Burnout. Doch die Produktivität unseres Konsums vermindern wir immer mehr. Unsere Konsumproduktivität tendiert Richtung Null-Nutzen.
Denn: Je mehr Güter und Dienstleistungen wir haben, desto weniger nutzen wir das einzelne Konsumgut. Desto weniger profitieren wir davon, und desto weniger können wir es geniessen. Die Wirtschafts-Wissenschafter kennen das. Und sie haben dafür auch einen Namen gefunden: Das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens.
Die höchsten Wachstumsraten erzielt der Leerlauf
Das gilt beim erwähnten Verkehrskonsum. Aber nicht nur dort. In fast allen Bereichen sinkt der Nutzen der konsumierten Güter oder Dienstleistungen. «Nur nichts kaufen ist billiger», warb vor Jahren einmal ein Discounter. Wer in seinen Kleiderschrank schaut, kann den Slogan leicht abwandeln: «Nichts kaufen ist produktiver.»
Oder nehmen wir die Elektronik. Da überstürzen sich die Innovationen. Trotzdem sinkt die Konsumproduktivität auch hier. Das Handy zum Beispiel verringert den Nutzen des Festtelefons. Oder umgekehrt. Das vielseitige iPhone, reduziert den Wert des iPod. Die zweite Generation von Digitalradios hat die erste Generation bereits zu Müll gemacht.
Schon Kinder wissen: Ihr fünfter Teddybär entwertet die vier andern. Wer eine Skiausrüstung besitzt und zusätzlich eine Langlauf-Ausrüstung kauft, halbiert den Gebrauch beider Ausrüstungen. Es wäre denn, er ginge doppelt soviel in den Schnee. Doch die Sonntage pro Jahr, an denen wir den Wintersport geniessen können, nehmen mit dem Klimawandel eher ab als zu.
Mehr Zeit als im Verkehr oder im Schnee verbringen wir mit Wohnen. Doch wenn wir von einer Dreizimmerwohnung ins Einfamilienhaus zügeln, halbieren wir die Nutzung der bewohnten Quadratmeter. Besonders unproduktiv sind Zweitwohnungen. Trotzdem gibt es immer mehr davon. Auch Grundbedürfnisse wie unsere Ernährung decken wir immer weniger effizient: Denn statt direkt mit Getreide, Kartoffeln oder Soja-Plätzchen ernährt sich die Menschheit zunehmend mit tierischen Produkten. Die Kehrseite: Um eine Kalorie in Form von Fleisch konsumieren zu können, müssen Bauern dem Vieh mehrere Kalorien in Form von Gras, Getreide oder Soja verfüttern. Die höchsten Wachstumsraten erzielt auch hier – der Leerlauf.
Unproduktiver Konsum führt in die Sackgasse
Diese Entwicklung gilt es zu wenden. Nicht, weil sie paradox ist. Sondern weil unproduktiver Konsum langfristig keine Zukunft hat. Schon unser heutiger Konsum ist nicht nachhaltig. In unseren Konsumgütern stecken Rohstoffe und Energie, die nicht erneuerbar sind. Für unseren wachsenden Verbrauch an Gütern und Dienstleistungen plündern wir die Vorräte an Erdöl und an andern natürlichen Ressourcen. Und unsere Bauten versiegeln fruchtbares Land, das sich ebenfalls nicht vermehren lässt.
Die Resultate der ökologischen Buchhaltungen sind ernüchternd: Weltweit beansprucht die Menschheit schon heute anderthalb Mal so viele natürliches Kapital, wie die Erde regenerieren kann. Das zeigen die Erhebungen von Mathis Wackernagel über den ökologischen Fussabdruck. In der Schweiz allein ist das Missverhältnis noch grösser: Die Schweizer Bevölkerung verbraucht je nach Erhebung dreieinhalb Mal bis fünfmal soviel Naturgüter, wie unser Territorium hergibt. Wenn alle Menschen so konsumierten, wie wir es hierzulande tun – dann brauchten wir zwei bis vier zusätzliche fruchtbare Planeten. Unser Konsumstil überfordert also die Kapazität der Natur um das Zwei bis Vierfache.
Auf der Erde gibt es riesige Vorräte. Und die Natur kann viele Schadstoffe schlucken und puffern, bevor sie kollabiert. Langfristig lässt sich die Übernutzung unserer Ressourcen nicht aufrecht erhalten. Ewig können wir uns nicht verschulden gegenüber der Natur. Darum ist unser heutiger Konsum nicht zukunftsfähig. Oder wie Grossväter sagen: Nicht enkeltauglich.
Nachhaltig konsumieren ist gut, reicht aber nicht
Gewiss, es gibt Rezepte gegen die Plünderung der Natur. Zum Beispiel den Umstieg auf sogenannt nachhaltige Produkte. Grüner Konsum, so hören wir, liegt im Trend. Ökologisch bewusste Manager verkaufen ihren Mercedes. Und sie kaufen stattdessen einen Toyota mit Hybrid-Antrieb. Wir können Bio- statt Käfigfleisch essen. Oder die Effizienz unseres Naturverbrauchs steigern: «Doppelter Wohlstand mit halbiertem Naturverbrauch» – das verhiessen die Autoren Ernst Ulrich von Weizsäcker, und Amory Lovins schon 1995 in ihrem Bestseller «Faktor 4». Demnach sollte die Produktivität aus der Nutzung von natürlichen Ressourcen um das Vierfache gesteigert werden.
Die ökologische Effizienz hat in den letzten Jahren tatsächlich etwas zugenommen. Technische Fortschritte und Umweltvorschriften senkten in vielen Bereichen den spezifischen Naturverbrauch. Ein Minergiehaus verheizt pro Quadratmeter Wohnfläche nur noch halb soviel Energie wie ein konventionelles Gebäude. Ein Laptop frisst weniger Strom als ein PC. Darum ist der Energieverbrauch in den letzten Jahren global und national etwas weniger stark gewachsen als das Bruttoinlandprodukt. Aber eben doch weiter gewachsen. Denn insgesamt überwog die Zunahme von Produktion und Konsum die ökologischen Verbesserungen. Oder einfacher gesagt: Die Menge schlug die Effizienz. Die ökologische Effizienz hinkte dem Wachstum des Konsums hinterher.
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Es folgt ein zweiter Teil: Nachhaltiger Konsum ist gut, mehr Zukunft aber hat ein effizienterer Konsum. Und so sieht er konkret aus.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Dieser Text beruht auf einem Referat, das der Autor an der Jahrestagung der GS1-Switzerland im Oktober 2012 gehalten hat.
Dank an die Infosperber-Autoren
Ich danke Hanspeter Guggenbühl und allen weiteren Autoren des Infosperbers für ihre täglich erscheinenden, durchwegs erhellenden und klärenden Beiträge. Sie vermögen nicht nur unser Wissen, sondern auch unser Bewusstsein zu fördern.
Schade, dass der Infosperber in den Schulen, in der Oberstufe nicht zur Pflichtlektüre gehört. Da erhielten Lehrer und Lehrerinnen fast pfannenfertige Lektionen. Sie müssten sie nur noch pädagogisch verdaubar aufarbeiten.
Herzlichen Dank!
Oje, Herr Guggenbühl! Neue Begriffe prägen (was soll Konsumproduktivität bedeuten?), die völlig unsinnig sind, hilft nicht wirklich – ganz abgesehen vom offenbar komplett fehlenden Verständnis für Konsumentenbedürfnisse (ich habe nun mal Spass an einem sportlichen Auto, auch wenn ich es in der Schweiz bezüglich Höchstgeschwindigkeit bei Weitem nicht nutzen kann). Und ich bin – offensichtlich im Gegensatz zu Ihnen – entschiedener Gegner von «Konsumentenbelehrung» oder gar «Konsumentenerziehung", denn da kommt mir viel zu schnell der DDR-Autofahrer in den Sinn, der die Auswahl zwischen Trabi und Trabi hatte…