Die grenzenlose Tiefststeuerpolitik
Hunderte Firmen siedeln sich jährlich wegen der tiefen Unternehmenssteuern in der Schweiz an, und alle jubilieren: Arbeitsplätze, Wachstum! Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Die Schweiz vernichtet damit Steuereinnahmen, die in anderen Ländern fehlen. Und befeuert die ungeliebte Arbeitsmigration. Der Preis dafür ist eine immer stärker zersiedelte Landschaft.
Wie viel ausländisches Steuersubstrat die Schweiz mit ihrer aggressiven Tiefssteuerpolitik vernichtet, zeigt eine aktuelle Schätzung des Think Tanks «Denknetz», das die WOZ veröffentlicht hat: 36,5 Milliarden Franken.
Unerbittlicher Steuerwettbewerb
Mit immer tieferen Steuern buhlt die Schweiz um die Niederlassung von Unternehmen aus aller Welt, die Schweizer Kantone liefern sich einen unerbittlichen Steuerwettbewerb nach unten. Der Kanton Luzern zum Beispiel senkte in den letzten 30 Jahren insgesamt neunmal die Steuern. Seit 2011 hat der Kanton die landesweit tiefsten Unternehmenssteuern. Jetzt ist Luzern pleite, in der Kasse des Kantons klafft ein Millionenloch.
«Zugisierung» wird diese unaufhörliche Abwärtsspirale bei den Steuersätzen genannt, weil der Kanton Zug dank immer tieferen Steuern ein Steuerparadies und damit ein attraktiver Wohnort und ein noch attraktiverer Standort für Firmen geworden ist. Wie weit diese Politik getrieben wird, zeigt das Beispiel des brasilianischen Minenkonzerns Vale, der sich 2006 im Kanton Waadt ansiedelte. Vale profitierte im Rahmen der so genannten «Lex Bonny» zur Förderung von wirtschaftlich schwachen Gebieten von einer um 80 Prozent reduzierten Bundessteuer. Zudem musste der Konzern keine Gemeinde- und Kantonssteuern zahlen. Der Konzern hat laut ETH Lausanne damit Steuergeschenke in der Höhe von insgesamt rund drei Milliarden Franken erhalten.
Millionen für die Aktionäre, keinen Rappen Steuern
Höhepunkt der Tiefsteuerstrategie der Schweiz ist die Unternehmenssteuerreform II, die von der Schweizer Bevölkerung in einer Abstimmung gutgeheissen worden ist. Sie befreit aus Kapitalreserven ausgeschüttete Dividenden von den Steuern. Der Rohstoffkonzern Glencore verteilte 2011 692 Millionen Franken an die Aktionäre, die dafür keinen Rappen Steuern zahlen mussten. Mit der Unternehmenssteuerreform II entgingen dem Staat allein 2011 Einnahmen von insgesamt 1,2 Milliarden Franken. Was sich die Schweiz bisher ohne nennenswerte Folgen an Steuerausfällen leisten kann, fehlt anderen Staaten.
«Die angesiedelten Unternehmen bezahlen in der Schweiz kaum Steuern, während diese Einnahmen in den Herkunftsländern fehlen. Die Schweiz trägt ganz massiv zum immer ruinöseren Steuerwettbewerb bei, der ganze Volkswirtschaften in die Krise treibt», sagt die Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Badran. Weil die Schweiz deshalb zunehmend ins Visier der EU gerät, warnt auch der frühere FDP-Präsident Fulvio Pelli: «Wie andere Staaten haben wir Firmen mit Steuerrabatten angesiedelt. Dabei wurde übertrieben. Die Grenze liegt bei Steuersätzen unter 10 Prozent. Firmen, die weniger als 10 Prozent zahlen, leben in einer Welt, in der sie zur Gesellschaft nicht mehr beitragen, was sie beitragen müssten.»
Negative Folgen auch für die Schweiz
Die negativen Folgen davon spürt inzwischen auch die Schweiz: Die Ansiedlung von Firmen und der damit verbundene Nachzug hochqualifizierter Arbeitskräfte aus ganz Europa führten zu einer starken Zuwanderung, zur Überlastung der Infrastruktur und zur Zersiedelung der Landschaft. Ausgerechnet aus dem Tiefsteuerkanton Zug wandern seit 2006 übrigens laut CS Economic Research mehr Leute ab als aus anderen Kantonen hinziehen. Der Grund: Die Wohnungsmieten sind für den Mittelstand kaum noch bezahlbar.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Die Artikel-Serie «Die 10 Schönheitsfehler der Schweiz» entstand im Auftrag der Filmemacher von «Image Problem».
Christof Moser und seine Quellen (Denknetz, J. Badran, F. Pelli, …) zeigt hier endlich klar die Folgen der Tiefststeuerpolitik auf: Vom «Wachstum» der Wirtschaft profitieren ein paar wenige, während die breite Bevölkerung der Schweiz und des Auslandes nur verliert – an Lebensqualität UND an Einkommen. Zudem zeigt sie, dass kein Wachstum, sondern nur eine Verschiebung stattfindet, und den Menschen ein Verlust der Heimat droht. Hoffentlich sprechen sich diese Tatsachen bald herum und die Stimmbürger machen dieser ruinösen Tiefststeuerpolitik endlich ein Ende.
Ich wundere mich schon lange, wie es den Neoliberalen in der Schweiz gelingen konnte, diese gigantische Umverteilung über Jahre vorwärtszutreiben und sogar das Volk zu überzeugen, der Unternehmenssteuerreform II zuzustimmen. Da wird die direkte Demokratie sehr relativiert, wenn sogar FDP-Pelli sagt «wir haben übertrieben".