6329919561_e24866d77d

Occupy-Bewegung als Hoffnungsträger: Keimzelle einer neuen gesellschaftlichen Bewegung? © Dominic's pics/Flickr/cc

Die Finanzkrise entmachtet die Demokratie (Teil 2)

Roman Berger /  Für die politische Führung ist das Vertrauen der Märkte wichtiger als das Vertrauen der Wähler. Wann wehrt sich die Gesellschaft?

Nach der Kapitalismus-Debatte in der «Financial Times» (Teil 1) stellte die NZZ einer Reihe von Autoren die Demokratiefrage. Als besonders bedrohlich für die Demokratie sieht der in Berlin lehrende Herfried Münkler ( NZZ 25. 4. 2012) die Beschleunigung der Finanzmärkte. «Es ist der immer grössere Zeitdruck, unter dem Entscheidungen gefällt werden, der die demokratische Mitwirkung des Volkes in eine nachträgliche Beurteilung der Folgen von Entscheidungen verwandelt (…) Die aktive Mitwirkung des Volkes am politischen Prozess wird auf Lappalien beschränkt, während in fast allen wichtigen Fragen nur noch der «Output» beurteilt werden kann.» Hier sieht Münkler mit Recht die Ursache für die Politik-Verdrossenen und «Empörten».
Zu Wut und Enttäuschung, so dreht der Politik-Professor den Spiess um, führe aber nicht die Machtlosigkeit der Politik sondern die «normative Ueberlastung der Demokratie». Münkler fordert nicht den Primat der Politik (Kontrolle der Finanzmärkte) sondern warnt vor dem «Risiko von zu viel Demokratie vor einer Demokratisierung der Demokratie.»
»Liebesaffäre» endet in der Reaktion
Ähnlich argumentiert Mark Lilla (NZZ 14. 5. 2012). Der in New York lehrende Geisteswissenschafter sieht die heutige Welt in einer «Liebesaffäre mit der Demokratie». Es sei aber unmöglich, die von der Verliebtheit genährten Erwartungen zu erfüllen. Lilla warnt vor «einer weltweiten Revolution steigender Erwartungen, die keine Regierungsform, geschweige denn eine historisch so besondere und gesellschaftlich derart komplexe wie die Demokratie, je wird erfüllen können». Zurückstecken der Erwartungen sei die einzige Chance, um das Schlimmste zu verhindern. «Denn wir wissen alle, was geschieht, wenn Revolutionen scheitern: Ein neues Zeitalter der Reaktion setzt ein.»
Demokratie nur für eine Minderheit
Demokratie ist also nicht Lösung sondern Ursache der Probleme. Solche Ansichten sind nicht neu, es ist aber bezeichnend, dass sie gerade jetzt wieder zur Krisenbewältigung angeboten werden. In einer Studie über die «Krise der Demokratie» (Huntington, Crozier, Watanuki 1975) vertraten politisch einflussreiche Kreise in den USA, Europa und Japan in den 70er Jahren die These: Demokratie kann nur funktionieren, wenn sie nicht «exzessiv» ist. Das Prinzip der gleichen politischen Teilnahmerechte aller Mitglieder des Gemeinwesens kann nicht wörtlich genommen werden. So versuchte damals eine konservative Führungsschicht die «Krise der Demokratie» zu bewältigen, nachdem die Politisierung neuer sozialer Schichten in den 1960er und 70er Jahren in Europa (68er Bewegung) und den USA (Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner) die traditionellen politischen Akteure herausgefordert hatte.
Vertrauen der Märkte wichtiger
Rund 40 Jahre später ist die politische Führung mit einer viel schärferen Herausforderung konfrontiert. «Die Dialektik von Demokratie und Kapitalismus entfaltet sich in atemberaubendem Tempo», schreibt Wolfgang Streeck in einem Epilog zu seinem Essay. «Die demokratischen Staaten der kapitalistischen Welt haben nicht mehr nur einen Souverän, sondern zwei: Unten ihr nationales Volk, oben die internationalen «Märkte». Die Gewichte verschieben sich rapide nach oben. Da für die Staaten das Vertrauen der Märkte heute wichtiger ist als das der Wähler wird die stattfindende Machtübernahme der Kapitalversteher nicht als Problem angesehen, sondern als Lösung.»
Entmachtung der Demokratie
Es droht also nicht eine «exzessive Demokratie». Das Gegenteil findet statt. Die Demokratie wird entmachtet – zur Rettung des Kapitals:
• In der EU wird mit einer Fiskalunion den schwächsten Staaten die parlamentarische Budgethoheit weggenommen.
•Demokratische Strukturen, sie wären die Voraussetzung von Fairness, werden auch in der Schweiz ausser Kraft gesetzt.
Die Rettung der UBS erfolgte per Notrecht. Und bei der nur knapp angenommenen Unternehmenssteuerreform II vor vier Jahren ist anstatt der bescheidenen Steuerausfälle, wie der damalige Finanzminister Hans Rudolf Merz versprochen hatte, mit Steuerausfällen von vielen Milliarden zu rechnen. Hier wurden nicht nur Fairness-Regeln verletzt, das Stimmvolk wurde «hinters Licht geführt» (Bundesgericht). Die Folgen davon: Eine neue Runde von Steuergeschenken für die bereits schon Privilegierten. Die Lasten zu tragen haben die übrigen «99 Prozent».
Osmose zwischen Regierung und Finanzindustrie
Um die Kniefälle der Politik vor dem Kapital zu verstehen, lohnt es sich, «The Quiet Coup» (The Atlantic, Mai 2009) (nochmals) zu lesen. Hier beschreibt Simon Johnson, ehemaliger Chefökonom des Internationalen Währungsfonds und heute Professor am Massachusetts Institute of Technology, wie eng in den USA Politik und Finanzindustrie miteinander verflochten sind. Wallstreet hat nicht einfach nur grossen Einfluss auf die Regierung (Lobbying) sondern stellt auch die Regierung (Finanzminister, Präsidentenberater). Zwischen Wallstreet und Washington gibt es einen offenen Korridor, Regulierer und Regulierte sind identisch (Drehtür-Effekt).
Und das Wichtigste: Ein Grossteil der Öffentlichkeit lässt sich durch die von der Finanzindustrie abhängigen Medien weiterhin überzeugen: «Was für Wallstreet gut ist, ist auch für Mainstreet gut.» Simon Johnsons Analyse der Osmose zwischen Wallstreet-Washington liesse sich – mit entsprechenden Anpassungen – auch auf die Achse Bundeshausplatz-Paradeplatz übertragen.
Ein neuer Gesellschaftsvertrag
Um nicht ganz aus der «Demokratie heraus und in eine Diktatur freier Märkte zu fallen», fordert Wolfgang Streeck einen «neuen Gesellschaftsvertrag des demokratischen Kapitalismus». Dafür müsste die Gesellschaft einen «selbstzerstörerisch gewordenen Massenkonsumismus» überwinden. Das könne nur geschehen, wenn jene, die von den jüngsten Transformationen des kapitalistischen Wirtschaftssystems wie nie zuvor profitiert haben und profitieren, grössere Opfer leisten als diejenigen, die in den Jahrzehnten der Liberalisierung und Globalisierung ihre Lebenschancen haben verfallen sehen.
Gerechte Löhne anstatt Pumpkapitalismus
Weiter fordert Streeck einen «demokratischen Abschied aus dem lebensgefährlichen Pumpkapitalismus». Gerechte Löhne müssten Konsumentenkredite überflüssig machen, die zum Ausgleich stagnierender Masseneinkommen und eines wachsenden Abstands zwischen unten und oben, eingerichtet worden seien. Für einen solchen Kurswechsel wäre aber eine wiederbelebte, starke Gewerkschaftsbewegung eine Voraussetzung, «die dem gegenwärtigen Raubbau an der menschlichen Arbeits- und Familienfähigkeit ein Ende setzen könnte».
Und schliesslich: Eine effektivere Besteuerung der Einkommen und Vermögen der Liberalisierungsgewinner müsste Staatskredite zur Bestreitung öffentlicher Aufgaben ablösen. Was Staaten im Auftrag ihrer Bürger für die Gesellschaft als Ganze tun, das dürfe nicht mehr mit geliehenem Geld geschehen. Der Trend zur Gesellschaftsspaltung, die Signatur des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, müsste umgedreht werden.
Politisch unangreifbare Festung
Mit seinen zahlreichen «müsste», «könnte» und «wäre» gibt Streeck zu verstehen, dass er selber nicht (mehr) an das Zustandekommen eines «neuen Gesellschaftsvertrages» glaubt. Ein «sozialdemokratischer Kompromiss» wie in den 60er und 70er Jahren sei heute nicht mehr denkbar. Der Verteilungskampf hat sich internationalisiert, die sogenannte Dienstleistungsgesellschaft besteht aus zwei Gesellschaften: Wie soll man die 30’000 Beschäftigten bei Goldman Sachs mit Durchschnittseinkommen von 500’000 Dollar pro Jahr und die andere Dienstleistungsgesellschaft der Putzfrauen und 400 – Euro-Jobber zusammenbringen?
Die demokratisch-kapitalistische Krisensequenz seit den siebziger Jahren hat, so Streeck, zu einer dauerhaften Regelung des Sozialkonflikts des fortgeschrittenen Kapitalismus geführt: «Diesmal gänzlich zugunsten der besitzenden Klassen, die fester denn je in ihrer politisch unangreifbaren Festung, der internationalen Finanzindustrie, verschanzt sind.»
Der «Abstieg ins Glück»
Das ist reine Schwarzmalerei! Es gibt keinen Grund für Aufregung oder gar Empörung, beschwichtigen Ökonomen und Politiker, die Margret Thatchers Losung «There is no Alternative» hochhalten. Ihre Botschaft lautet: Sparen müssen wir a l l e. Die «Zeit der Austerität» kann auch eine Chance sein, die uns alle weiterbringt: Politisch, ökologisch, sozial und psychologisch. Der Wohlstandsverlust ist in Wirklichkeit ein «Abstieg ins Glück» (David Hesse in Tages Anzeiger 26. April 2012).
Wer aber steigt ab, und wer bleibt oben? Auch hier lohnt sich ein Rückblick. In den 70er Jahren dominierte die von der liberalen Schule vertretene Auffassung, der Gewinn werde aus den Zentren in die Peripherie sickern, zum Beispiel in die damalige Dritte Welt. Heute stellen wir fest, wie auch in den Ländern des Nordens die Einkommensgräben immer tiefer werden. Aus dem «Trickle down-Effekt» ist ein «Trickle up-Effekt» geworden.
Die «Ghettos mit Seesicht»
Auch in der Schweiz haben die Einkommensungleichheiten stark zugenommen. Gleichzeitig findet eine verstärkte Ballung der obersten Einkommen auf eine schrumpfende Anzahl von Wohnorten statt. Der Lausanner Wirtschaftsprofessor Marius Brülhart hat in einer Analyse der Bundessteuerdaten festgestellt, wie sich die Spitzenverdiener auf deutlich weniger Regionen als vor vierzig Jahren konzentrierten. Besonders in der Nähe der Finanzzentren Zürich und Genf könne man von einer «Ghettoisierung der Reichen» sprechen. Tiefsteuerregionen ziehen Grossverdiener an, was weitere Steuersenkungen ermöglicht. Es entstehen «Ghettos mit Seesicht» (NZZ online. 9. Mai 2012).
Keine Frage. Der Geldadel muss sich in der Schweiz noch nicht in die Burgen von «Gated Communities» flüchten. Die Ärmsten im Lande werden weiterhin durch ein soziales Netz aufgefangen, es drohen keine Aufstände wie in den französischen Banlieues. Der Mittelstand gerät zwar zunehmend unter Druck, befindet sich aber weiterhin auf einem beachtlichen Wohlstandsniveau. Nach der «Abzocker»-Debatte der letzten Jahre versucht die Oberschicht, mit grosszügigen Spenden für Universitäten und andere unter Spardruck stehende öffentliche Institutionen Goodwill zu schaffen. In Basel wird mit der Finanzierung der Alternativ – Zeitung «Tageswoche» sogar die «vierte Gewalt» von der Roche-Erbins und Mäzenin Beatrice Oeri unterstützt.
Doch das sind Nebenschauplätze. In seiner Abschiedsvorlesung hat Daniel Thürer, ein Liberaler alter Schule, vor einer «Refeudalisierung der Gesellschaft» gewarnt. Der prominente Völkerrechtler an der Universität Zürich hat das Wuchern der wilden Finanzmärkte in rechtlosen Räumen vor Augen.
Werweissen über die Reaktion der Gesellschaft
Wolfgang Streeck thematisiert in einer Nach-Diskussion zu seinem Essay (Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 4-2012) die Ohnmacht der «verantwortungsvollen Opposition» und stellt die Frage: «Wenn alles, was vernünftig und verantwortlich ist, nur darin bestehen kann, jetzt irgendwem irgendwelche Schulden abzuzahlen, die irgendwelche anderen für mich gemacht haben, vielleicht ist dann noch am verantwortlichsten, wenn man sich mal verantwortungslos verhält. Was passiert dann?»
Streeck hat einen minimalen Optimismus bewahrt, den er so umschreibt : «Die Gesellschaft wird sich ihre Auflösung nicht gefallen lassen. Insofern bin ich zuversichtlich, dass etwas geschieht. In welchen Organisationsformen, kann ich aber nicht sagen.»
Werden sich die Menschen wehren? Ja, aber nur unter gewissen Bedingungen, gibt Oskar Lafontaine zu bedenken. In einem Essay «Warum die Linke oft recht hat, es aber nur selten bekommt», (FAZ 11.09. 2012) stellt Lafontaine fest: «In der Krise müssten linke Ideen und Argumente den Diskurs bestimmen. Doch nach wie vor dominieren jene Begriffe und Ideologien, die uns ins Verderben geführt haben.» Nicht nur die realen Machtstrukturen verhinderten die Umsetzung linker Reformen, glaubt Lafontaine: «Entscheidender ist, dass die Denk- und Urteilsstrukturen, denen wir unterworfen sind, der geistige Ueberbau dieser Machtverhältnisse sind.»
Wer kämpfte für die Freiheit?
Wer die Begriffe prägt, bestimmt das Denken. Ein Beispiel: Konservativen und Neoliberalen gelingt es, sich als Kräfte der «Freiheit» aufzuspielen, während sie Linken und Progressiven das Image anhängen, sie versuchten die Freiheit zu gängeln und einzuschränken. In der Ideengeschichte des Westens waren es aber Linke und liberale Progressive, die für Freiheit, Bürgerrechte und Demokratie kämpften. Heute haben sie den Freiheitsbegriff den Konservativen und Neoliberalen kampflos überlassen.
Lafontaine zitiert Rousseau: «Zwischen dem Starken und dem Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.» Der Grundsatz des Aufklärers ist hoch aktuell. Jahrzehnte der Deregulierung haben die Welt in Geiselhaft der Finanzmärkte gestürzt. Obwohl der Ruf nach Regeln und Gesetzen, die die Finanzmärkte in die Schranken weisen und der Demokratie wieder Raum verschaffen sollen, immer lauter wird, sind die Starken (sprich die Banken) so mächtig geworden, dass die Regierungen und Parlamente Gesetze zum Schutz der Schwachen (also der Mehrheit) der Bevölkerung, nicht mehr durchsetzen können.
Der britische Konservative Charles Moore schrieb vor einem Jahr: «Die Stärke der Analyse der Linken liegt darin, dass sie verstanden haben, wie die Mächtigen sich liberal-konservativer Sprache als Tarnumhang bedient haben, um sich ihre Vorteile zu sichern.» Wenn auch die Mehrheit versteht, dass die «Diktatur der freien Märkte» (Streeck) Ungleichheiten produziert, die ihre Freiheit einschränken, aus ihrem Leben etwas zu machen, dann besteht die Hoffnung, dass die Gesellschaft sich wehren wird.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

Bildschirmfoto20120107um17_56_48

Die Demokratien im Stress

Die Finanz- und Politkrisen setzen den Demokratien im Westen arg zu. Auch mit der Gewaltenteilung haperts.

Neoliberalismus2

Neoliberale und ihre Ideologie

Der Neoliberalismus à la Reagan und Thatcher will möglichst wenig Staat und dafür freie Fahrt für Konzerne.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.