«Die Atomaufsicht dreht alle Kritik ins Positive»
Das AKW Mühleberg darf nur noch bis zum 30. Juni 2013 weiterlaufen. Oder es muss bis dahin nachweisen, dass es wirklich sicher ist. Das hat das Bundesverwaltungsgericht am 1. März 2012 entschieden und damit eine Beschwerde von 100 AnwohnerInnen gutgeheissen. Zu viele Sicherheitsprobleme seien ungelöst, befand das Gericht. Und es kritisierte auch gleich die zuständige Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK): Dem Bundesamt fehle es an notwendigem Wissen, um Betriebsbewilligungen auszustellen.
Das UVEK stützte sich bisher auf Einschätzungen des Eidgenössischen Nuklearsicherheits-Inspektorats (ENSI) ab. Die Bernischen Kraftwerke (BKW) als Betreiberin des AKW Mühleberg und das UVEK haben gegen diesen Entscheid bei der höchsten Instanz, beim Bundesgericht, rekurriert. Wann das Bundesgericht über den Rekurs entscheidet, ist unbekannt. Bereits abgewiesen hat es das Gesuch der BKW um aufschiebende Wirkung. Damit hätte die BKW das Abschaltdatum vom 30. Juni 2013 hinausschieben wollen.
Jürg Joss und Jürg Aerni vom «Verein Mühleberg-Ver-fahren» haben die Anwohnerinnen und Anwohner bei der Beschwerde unterstützt. Im Interview, das im EnergieExpress erschienen ist, nehmen sie Stellung zum wegweisenden Entscheid.
Der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einer atomfreien Schweiz.
Tatsächlich. Für uns vom «Verein Mühleberg-Ver-fahren» ist klar, dass das AKW Mühleberg nicht mehr dem Stand der Technik entspricht und noch etliche Sicherheitsfragen offen sind. Das UVEK hätte die Betriebsbewilligung für das AKW Mühleberg nie verlängern dürfen.
Geht das AKW Mühleberg in einem Jahr wirklich vom Netz?
Darüber muss erst das Bundesgericht entscheiden. Denn die BKW als Besitzerin des AKW Mühleberg und das UVEK haben den Entscheid ans Bundesgericht weitergezogen. Erst dann ist das Urteil rechtskräftig. Immerhin hat das Bundesgericht bereits eine Beschwerde der BKW abgewiesen, in dem sie eine aufschiebende Wirkung verlangte.
Welche Rolle spielen Sie vom «Verein Mühleberg-Ver-fahren»?
«Mühleberg-Ver-fahren» hat die Anwohnerinnen und Anwohner bei ihrer Beschwerde gegen die Betriebsbewilligung des UVEK unterstützt. Unser Verdienst war es, dass wir durch Einbringen der technischen Aspekte aufzeigen konnten, dass das UVEK die Mängel des AKW bei seinem Entscheid zu gering einstufte.
Wieso fechten die BKW und das UVEK den Gerichtsentscheid an?
Die BKW will einerseits Zeit gewinnen und hofft andererseits auf ein toleranteres Bundesgericht. Das UVEK möchte durch das Bundesgericht seine Kompetenzen und Aufgaben feststellen lassen. Das Bundesverwaltungsgericht hat eben auch festgehalten, dass dem UVEK das Know-how für die Erteilung von AKW-Betriebsbewilligungen fehlt.
Wenn nicht auf eigenes Wissen, worauf stützt sich das UVEK bei der Vergabe von Bewilligungen?
Auf Angaben des ENSI und die Kommission für nukleare Sicherheit (KNS). Das ENSI möchte, dass dies so bleibt. Anne Eckhardt, die Ratspräsidentin des ENSI, erklärte unlängst: Das ENSI und die Kommission für nukleare Sicherheit KNS würden das UVEK in ausreichendem Masse beraten, so dass das UVEK keine eigene Kompetenzstelle aufbauen müsse. Ein Mitglied der KNS beklagte gleichzeitig, dass der KNS die nötigen Mittel für eine eigenständige Einschätzung fehlen würden.
Zu den Sicherheitsfragen: Die BKW behauptet, die Risse im Kernmantel des AKW Mühleberg seien unbedenklich, da der Kernmantel nicht druckführend ist.
Die BKW und das ENSI lenken von der Tatsache ab, dass der Kernmantel (siehe Skizze unten) eine wichtige Kühlfunktion hat und bei Unfällen starken Schwingungen ausgesetzt ist. Der Kernmantel befindet sich im Innern des Reaktors. Bei einem Leitungsbruch der Umwälzschlaufe nahe dem Reaktor würde das Kühlwasser aus dem Reaktor auslaufen. Um den Kern [die Brennstäbe] weiterhin kühlen zu können, muss in diesem Fall der Kernmantel, der die Brennelemente umhüllt, das Kühlwasser zurückhalten. Man kann sich dies wie eine Tasse mit einem Tauchsieder vorstellen. Die Tasse entspricht dem Kernmantel, der das Wasser zurückhält. Der Tauchsieder sind die heissen Brennelemente. Beim oben genannten Rohrleitungsbruch kommt es zu starken Schwingungen im Innern des Reaktors.
Was wären die Folgen?
Wahrscheinlich würden die Risse im Kernmantel grösser und der Kernmantel undicht. Der Kühlwasserinhalt im Innern des Kernmantels würde auslaufen, und auch das oberhalb des Kernmantels platzierte Kernsprühsystem könnte nicht genügend Kühlwasser nachliefern. Der Kern wäre freigelegt, es drohte eine Kernschmelze. Die BKW plant nun die 1998 eingesetzten Zuganker, die den rissigen Kernmantel zusammenhalten sollen, zu verstärken. Auf den Austausch des Kernmantels will sie aus Kostengründen verzichten. Aus unserer Sicht ist das aber völlig ungenügend.
Hat das AKW Mühleberg ein Erdbeben wie in Fukushima zu befürchten?
Nein. Diese oft gestellte Frage ist aber irreführend! Erdbeben in Japan sind weit stärker als in der Schweiz. Deshalb sind die Atomkraftwerke in Japan viel widerstandsfähiger gebaut als in der Schweiz. Aber offensichtlich waren sie zu wenig sicher.
Schwächere Erdbeben bedeuten aber auch geringere Gefahren?!
Im Schweizer Massstab muss man um die AKW hier ebenfalls Angst haben: 2004 waren dem ENSI die ersten Resultate der Erdbebenstudie PEGASOS7 bekannt. 2007 wurde der Bericht veröffentlicht. Die Resultate waren erschreckend: Erdbeben, wie sie in der Schweiz stattfinden, wurden bis dahin um zirka das Zweifache unterschätzt. Um die Erdbebenfestigkeit eines AKW zu berechnen, wird ein sogenanntes Sicherheitserdbeben SSE angenommen; dabei handelt es sich um ein Erdbeben, welches in der Schweiz real stattfinden könnte. Es liegt etwa bei Stärke 7 auf der Richterskala, also weit unterhalb des Bebens, das sich in Fukushima ereignete.
Und die AKW sind für ein Beben der Stärke 7 nicht sicher genug?
Die «Sicherheitsberichte» der AKW Beznau (2004) und Mühleberg (2007) zeigen auf, dass im AKW Beznau 20 und in Mühleberg 17 sicherheitsrelevante Systeme einem SSE-Beben nicht standhalten würden. Wir brauchen kein Erdbeben der Stärke Fukushima, um Mühleberg und Beznau in Not zu bringen!
Wie gross ist die Gefahr durch den Wohlensee-Staudamm?
Der Staudamm liegt 1,2 km oberhalb des AKW Mühleberg. Bricht dieser wegen eines Erdbebens, sind sämtliche Ansaugstutzen in der Aare für die Notkühlung des Reaktors durch Verstopfungen und Flutwellen akut gefährdet. Mühleberg verfügt als einziges AKW der Schweiz über kein alternatives Kühlsystem. In einer Studie im Auftrag der BKW vom April 2011 rechnen die Autoren vor, dass der Staudamm zwar robuster ist als bisher angenommen, trotzdem hält er einem anzunehmenden 10 000-jährlichen Erdbeben nicht stand.
Das AKW Mühleberg ist vom gleichen Bautyp wie Fukushima. Das ist unheimlich.
Fukushima 1 und Mühleberg sind bis auf einige unterschiedliche Nachrüstungen baugleich. Das Hauptmerkmal dieses Reaktor-Typs ist der Torus unterhalb des Reaktors. Wie ein grosser Ring steht der Torus, der zur Hälfte mit Wasser gefüllt ist, in der Luft rings um das Containment. Das Wasser dient im Notfall als Kühlmittel. Leckt der Torus, sind darunter etliche Aggregate von einer Überflutung gefährdet. Bereits während der Bauphase von Mühleberg entwickelte der Hersteller General Electric eine verbesserte Generation Reaktoren. Dies ermöglicht es, im Notfall eine grössere Menge an Dampf aufzunehmen. Das System ist so stabiler.
Gibt es weitere Parallelen?
Ja: Die mangelnde räumliche Trennung im Containment. Kommt es in Mühleberg zu einem Brand, kann das Reaktorgebäude nicht unterteilt werden, es bildet eine einzige Brandzone. Bricht eine Leitung zum Reaktor oder der Torus selber, kommt es im Reaktorgebäude zu einer Überflutung. Sämtliche Apparate im unteren Reaktorgebäude wie Pumpen und Ventile würden gleichzeitig überflutet, die Anlage wäre nicht mehr zugänglich. Sogar Wohngebäude werden anders als die AKW Mühleberg und Beznau mit Brandtrennmauern oder brandfesten Türen räumlich getrennt.
Was hat das ENSI unternommen?
Die Kontrollbehörde ENSI hat Mitte 2011 Kommunikationsexperten angestellt, um das Image aufzuwerten. Seither fährt das ENSI eine Imagekampagne in der Öffentlichkeit. Alle Kritik wird ins Positive gedreht. Das ENSI stellt selbst längst bekannte Sicherheitsmängel so dar, als handle es sich um neue Erkenntnisse im Nachgang des GAUs von Fukushima.
Das ENSI kommt also seinen Verpflichtungen nicht nach?
Der Bericht der KNS vom April 2012 lässt jedoch trotz etlichem Lob aufhorchen. Die KNS bemängelt darin, das ENSI setze keine Umsetzungstermine an. Etliche Schwachpunkte der Reaktoren, welche zwar auch das ENSI erkannte, werden aufgelistet: Wasserstoffaufbau im Reaktorgebäude, mangelnde Notkühlung der Lagerbecken für abgebrannte Brennelemente. Vor allem aber wurden zur Beurteilung der Risiken falsche Grundlagen eingefordert. So verlangte das ENSI, dass Schweizer AKW für die 10 000-jährliche Überflutungsbeherrschung einem Blockregen von zwei Tagen standhalten müssen, obwohl Klimahistoriker von drei- bis fünftägigen Regenereignissen ausgehen. Und trotz der seit 2004 bekannten PEGASOS-Resultate ist das AKW Mühleberg immer noch mit 17 nicht erdbebensicheren Sicherheitssystemen am Netz.
Was ist Ihr Fazit?
Die Kritikpunkte, welche die Vorgängerin von «Fokus Anti-Atom», die «Aktion Mühleberg stilllegen» (AMüs), bereits 1990 ins Feld führte, haben sich kaum verändert. Sie wurden jedoch durch den Unfall in Fukushima bestärkt. Die Situation der Aufsicht über die AKW lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: «Setzt das ENSI den Massstab genügend tief an, wird auch das am schlechtesten ausgerüstete AKW die Kriterien erfüllen.»
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Das Interview ist im EnergieExpress erschienen, der Zeitung der «Gewaltfreien Aktion Kaiseraugst» (GAK)
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Jürg Joss und Jürg Aerni vom «Verein Mühleberg-Ver-fahren» haben die Anwohnerinnen und Anwohner der Zone 1 und 2 gegen den unbefristeten Betrieb des AKW Mühleberg vor Gericht unterstützt.