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Alain Berset unter Druck der Kantone und medizinischen Fakultäten © srf

Keine Angst vor einem Ärztemangel, Herr Bundesrat!

upg /  Alle plappern es nach: Bald haben wir zu wenig Ärzte. Doch für die Patienten wäre es besser, wir hätten keine Ärzteschwemme.

Zu einem «Dialog über die Gesundheitspolitik» empfängt Bundesrat Alain Berset diese Woche Vertreter von Uni-Spitälern und Universitäts-Kantonen. Zum Auftakt haben diese die Medien instrumentalisiert und in einer orchestrierten Aktion viel Geld vom Bund gefordert, um mehr Ärzte auszubilden. Der Tages-Anzeiger und der Bund schrieben in grosser Aufmachung, die kantonalen Gesundheits- und Erziehungsdirektoren sowie die Konferenz der Uni-Rektoren hätten ein gemeinsames Dokument unterschrieben und gefordert, dass jedes Jahr 400 zusätzliche Ärzte auf Kosten des Bundes ausgebildet werden (200 Millionen Franken jährlich). Dagegen berichtete die NZZ in kleiner Aufmachung von einem «Wirbel mit ‚Empfehlungen’» und meldete, dass noch niemand das Dokument unterschrieben hat.
Logisch, dass die kantonalen Universitäten gern Geld vom Bund hätten. Christoph Eymann als Vertreter der Universitäten forderte auf allen Kanälen sogar ein «dringliches» Bundesgesetz, wie wenn es sich um ein unvorhergesehenes Ereignis handelte.

Die Kampagne startete am letzten Donnerstag: Die TV-Sendung «10vor10» meldete online «Ärztemangel wegen Numerus Clausus». In der Sendung kamen ausschliesslich Lobbyisten zu Wort, die Bundesgelder fordern. Neben Eymann der Vizedekan der Uni Basel sowie der Präsident der Hausärzte: «Der Ärztemangel ist ein weltweites Problem.»

Unterschlagene Fakten

Zur Information über einen Ärztemangel gehören folgende Tatsachen:
1. Verglichen mit dem Ausland leiden die Schweizerinnen und Schweizer an einer Ärzteschwemme: Laut Statistik der OECD gibt es bei uns 24 Prozent mehr berufstätige Ärzte pro Einwohner als im Durchschnitt der Industrieländer. Ein Ausreisser ist Griechenland: Dort ist die Ärztedichte mit Abstand am grössten. Das zeigt, dass die Zahl der Ärzte mit der Qualität der Gesundheitsversorgung nicht mehr viel zu tun hat. In der Schweiz gibt es – immer laut OECD – 7 Prozent mehr Ärzte pro Einwohner als in Schweden, 10 Prozent mehr als in Deutschland, 20 Prozent mehr als in Dänemark oder sogar 60 Prozent mehr als in den USA.
2. Die Dichte der Ärztinnen und Ärzte hat rasant zugenommen. Im Jahr 1980 genügte in der Schweiz ein Arzt pro 406 Einwohner. 1990 kamen auf einen Arzt 337 Einwohner und 2011 noch 258 Einwohner.
3. Ausgerechnet in denjenigen Kantonen und Gegenden, in denen die Ärztedichte am geringsten ist, werden die Schweizerinnen und Schweizer am ältesten. Das zeigt die Mortalitäts-Statistik.

So kommt der «Ärztemangel» zustande

Ist die Schweiz ein Land auf dem Lazarett, deren Bevölkerung immer kränker wird und deshalb immer mehr Doktoren braucht? Nein. Deshalb wird als Grund für den steigenden Ärztebedarf gerne die Alterung der Bevölkerung vorgeschoben, obwohl das Bundesamt für Statistik nachgewiesen hat, dass die Alterung insgesamt fast keinen Mehraufwand verursacht (vgl. «An steigenden Kosten sind nicht die Alten schuld»). Oder sind es Patientinnen und Patienten, die heute im Gegensatz zu früher wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt springen? Nein. Diese gibt es zwar, aber kaum mehr als früher.

Die wahren Gründe für das schier unbegrenzte Wachstum der Ärztezahl werden verschwiegen, und sinnvolle Massnahmen gegen die Ärzteschwemme bleiben tabu:

1. Das Gesundheitswesen ist ein «Angebotsmarkt». Die Anbieter, also die Ärzte in Praxen und Spitälern, bestimmen weitgehend, wie viel Medizin «konsumiert» wird. Das liegt in der Natur der Sache. Falls es irgendwo zu viele Ärzte gibt, können sie einfach mehr diagnostische Tests vornehmen, intensiver behandeln (ohne Mehrnutzen), die Patienten häufiger aufbieten und sogar – nicht einmal selten – unnötig operieren.
2. Im Gegensatz zu fast allen Ländern Europas beziehen Praxisärzte in der Schweiz nicht einen Lohn oder eine Pauschale mit wenigen Zulagen, sondern sie können jede «Einzelleistung» in Rechnung stellen (Gleichzeitig reklamieren sie, wie aufwändig und kompliziert dieses «Tarmed»-System sei). Ärzte in der Schweiz können damit ihr Einkommen erhöhen, wenn sie mehr behandeln als nötig. Die Folge davon: Je schlechter sie behandeln und je kränker ihre Patienten bleiben, desto mehr können sie verdienen. Diese falschen finanziellen Anreize sind längst bekannt, aber tabu.
3. Die Praxisärzte profitieren von einem Vertragszwang: Alle Kassen sind verpflichtet, sämtliche Ärzte gleich zu zahlen. Könnten Ärzte nicht vom Vertragszwang profitieren, der allen ein hohes Einkommen ermöglicht, würden wohl nicht so viele Studierende das Medizinstudium wählen. Vielleicht bräuchte es an Universitäten keinen Numerus Clausus mehr. Es gibt keine andere Berufsausbildung, die einen sicheren und lukrativen Arbeitsplatz garantiert. Doch das Abschaffen dieses Ärzteprivilegs ist tabu.
4. In ländlichen Regionen fehlen Allgemeinpraxen, während es in Städten zu viele Spezialisten gibt. Wer an die Marktwirtschaft glaubt, löst das Problem so, dass die Tarife für Spezialisten gesenkt und die Tarife für Allgemeinpraktiker auf dem Land erhöht werden. Doch das ist tabu.
5. Alle Länder Europas ausser die Schweiz und Deutschland kennen ein Hausarztmodell. Es leistet bessere Qualität, kommt mit weniger der viel teureren Spezialisten aus und macht den Job von Allgemeinärzten attraktiver. Die schlecht aufgegleiste «Managed Care»-Initiative war ein Versuch, Gruppenpraxen wenigstens etwas zu bevorzugen.
6. Weil es in der Schweiz zu viele Spitäler gibt und einzelne von der Schliessung bedroht sind, versuchen sie ihre Auslastung zu verbessern, aufzurüsten und die Fallzahlen zu erhöhen – selbst mit unnötigen Eingriffen.

«Ärztemangel» ad libidum

Aus all diesen Gründen wird es nach der Lesart von Ärztegesellschaften, medizinischen Fakultäten, Gesundheitsdirektoren und vielen Politikern, die mit der Gesundheitsindustrie verbandelt sind, nie zu viele Ärztinnen und Ärzte geben. Sie vermeiden es tunlichst zu sagen, wie viele Ärzte pro Einwohner denn für eine optimale medizinische Versorgung erwünscht wären. 1980 reichte ein berufstätiger Arzt für 406 Einwohner, heute gibt es einen Arzt pro 258 Einwohner. Das Fatale: Auch wenn es bald einen Arzt pro 200 oder sogar nur 150 Einwohner gäbe, könnten immer noch alle Ärzte das gleiche Einkommen erreichen wie die Ärzte heute. Denn Ärzte können die Menge der Leistungen fast beliebig ausweiten. In der Tat verdienen Ärzte gleicher Fachrichtung überall fast in der Schweiz fast gleich viel, ob sie nun in einer Gegend mit hoher oder tiefer Ärztedichte praktizieren. Universitäten und Kantone können selbst bei noch höherer Ärztedichte einen «Ärztemangel» geltend machen, um vom Bund zusätzliches Steuergeld zu erhalten.

Schlecht für Patientinnen und Patienten

Die falschen finanziellen Anreize und die Tabus haben schwerwiegende Folgen. Am einschneidendsten betrifft es die Gesundheit. Denn Ärzte in grosser Konkurrenz miteinander können ihre Einkommen nur halten, wenn sie unnötig viel diagnostizieren, behandeln und operieren.
Professor André Busato vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern spricht von «medizinisch nicht begründbaren Leistungen». Sie lassen sich innerhalb der Schweiz mit Recherchen aufgrund von Zahlen des Bundesamts für Statistik belegen. Hier nur wenige Beispiele:

– Die vielen Herzspezialisten im Kanton Waadt veranlassen pro Einwohner fast doppelt so viele Untersuchungen mit einem Herzkatheter wie Ärzte im Kanton St. Gallen. Ein Nutzen ist nicht belegt. Die Risiken tragen die Patientinnen und Patienten.
– Die grosse Dichte von Hals-, Nasen- und Ohrenärzten in Basel hat zur Folge, dass fast doppelt so viele Erwachsene in Basel die Mandeln operiert haben als im Kanton Graubünden. Die Risiken tragen die Patienten.
– Bevor im Tessin ein kardiologisches Zentrum eröffnet wurde, brauchten die Tessiner weniger Herzbehandlungen als der Durchschnitt der Schweizer Bevölkerung. Heute landen herzkranke Tessiner doppelt so häufig auf dem Behandlungstisch als die Deutschschweizer. Ein Nutzen ist nicht nachgewiesen. Die Risiken tragen die Patientinnen und Patienten.

Zu den gesundheitlichen Risiken von Überbehandlungen ohne Nutzen kommen die finanziellen Folgen. So lange die Schweiz nicht an den erwähnten Tabus rührt und an den finanziellen Anreizen in die falsche Richtung nicht rüttelt, bleibt die Gesundheitsindustrie ein Fass ohne Boden. Wer an diesem inzwischen 65-Milliarden-Markt mit verdient, verteidigt seine Pfründen. Einigkeit unter den Beteiligten gibt es nur dort, wo noch mehr Steuergelder zu holen sind. Zum Beispiel Bundesgelder zum Finanzieren von 400 zusätzlichen Ärzten jährlich.


Nachtrag

Es kommen immer mehr ausländische Ärzte in die Schweiz. Diese kommen jedoch nicht, weil hier ein Ärztemangel herrschen würde, sondern weil sie hier ein garantiert hohes Einkommen erwartet (siehe oben). Sie dürfen ja auch Arztpraxen eröffnen. Jetzt soll der Bund 200 Millionen Steuergelder aufwenden, um 400 zusätzliche Schweizer Ärzte auszubilden.
Allerdings kommen noch mehr ausländische Pflegefachleute in die Schweiz, ebenfalls weil sie hier mehr verdienen als in ihren Heimatländern. Seltsamerweise fordert niemand, man soll 200 Bundesmillionen aufwerfen, um dem Pflegepersonal bessere Löhne zu zahlen. Höhere Löhne würden diese Jobs automatisch auch für Schweizerinnen und Schweizer attraktiver machen.
Fazit: Eine starke Lobby muss man haben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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2 Meinungen

  • am 21.08.2012 um 13:01 Uhr
    Permalink

    Gratulation zum ausgezeichneten Artikel! Genau das würde ich auch von den kommerziellen Printmedien erwarten: Unabhängige, freche Kritik, die Tabus anpackt. Gerade bei uns im Kanton Bern erreichten wir bisher keine Steuerung im Gesundheitswesen, insbesondere bei der Spitalversorgung. Warum? Die Vetreter von Spitälern, insbesondere von privaten, streiten die Angebotsorientierung ab, obschon die Fallstatistiken in einigen Bereichen eindeutige Zahlen liefern: Patienten werden überbehandelt mit entsprechenden Risiken.

  • am 23.12.2012 um 12:13 Uhr
    Permalink

    Ein wichtiger Faktor fehlt meines Erachtens in diesem Artikel: Der Druck der Patienten. In der Praxis erlebt man oft, dass – Internet sei Dank – die Forderungen der Patienten nach Medikamenten und Untersuchungen ein Problem sind. Die «belesenen» Patienten kommen mit klaren Vorstellungen eines Leistungsbezugs, und wenn sie nicht bekommen, was sie verlangen, wechseln Sie den Arzt. Und auch ein Arzt muss wirtschaftliche Kriterien beachten. Nur Abraten und Nein sagen, zahlt sich leider nicht aus. Einmal mehr: zu viele Informationen schaden den Patienten. Nach einer TV-Sendung zu Darmkrebs steigt die Zahl der verängstigten Patienten, die eine Colonoskopie fordern, an. Es sind nicht nur die Ärzte schuld an der Kostenexplosion im Gesundheitswesen, sondern auch die Patienten und die Medien. Wenn mann denn hier von Schuld reden kann.

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