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Verendeter Eissturmvogel mit dem Magen voller Plastikmüllabfall. © Chris Jordan, Courtesy of Christophe Guye Galerie

Die Plastikmüll-Apokalypse in den Weltmeeren

Jürg Lehmann /  Über 8500 Eintritte in den ersten vier Wochen und alle Workshops ausgebucht: Die Ausstellung «Endstation Meer?» in Zürich hat Echo.

Es geht im Zürcher Museum für Gestaltung um Plastik und darum, was der Mensch damit anstellt, wenn er es nicht mehr braucht. Er wirft es weg und vieles davon gelangt ins Meer – mit verheerenden Folgen. Die Zahlen und Fakten:

PLASTIK, PLASTIK, PLASTIK

• Plastik (Kunststoff) gehört zu unserem Leben. Er hat ein geringes Gewicht, ist säureresistent und biegsam. Ausserdem ist die seine Herstellung kostengünstig.

• Pro Sekunde werden weltweit 8000 Kilo Kunststoffe hergestellt.

WORAUS BESTEHT PLASTIK?

• Kunststoffe bestehen aus langen Molekülketten, sogenannten Polymeren, die durch die Verkettung des immer gleichen Bausteins (Monomer) entstehen.

• Synthetisch hergestellte Kunststoffe werden aus Erdöl, Kohle oder Erdgas gewonnen. Insgesamt werden 4 Prozent der globalen Öl- und Gasproduktion dafür verwendet.

• Kunststoffe lassen sich durch das Beimischen von Zusatzstoffen, sogenannten Additiven, modifizieren und den jeweiligen Bedürfnissen anpassen. Bei einigen der Stoffe gibt es happige Bedenken bezüglich Gesundheit (Krebs) und Umwelt.

• Als besonders problematisch gelten gewisse Phtalate (Weichmacher), Bisphenol A und verschiedene Flammschutzmittel.

• Herkömmliche Kunststoffe sind biologisch nicht abbaubar.

WEGWERFPRODUKT PLASTIKTÜTE

• Weltweit werden jährlich über 250 Millionen Tonnen Plastik produziert.

• Pro Kopf und Jahr beträgt der Plastikverbrauch global 35 Kilo; in Westeuropa sind es 92 Kilo; in der Schweiz 120 Kilo. Der grösste Teil sind Verpackungen (ein Drittel Industrie, zwei Drittel Haushaltungen)

• Pro Jahr werden weltweit 600 Milliarden Plastiktüten hergestellt. Das sind 20 000 Stück pro Sekunde. Jeder in Europa braucht 500 Plastiktüten pro Jahr.

AB MIT DEM MÜLL INS MEER

• Plastikmüll verschmutzt über Jahrzehnte bis Jahrhunderte die Umwelt. Im Wasser werden die Teile in immer kleinere Stücke aufgebrochen. Sie gelangen auf diese Weise in die Nahrungskette und wieder auf unsere Teller.

• Über 6 Millionen Tonnen Plastikmüll kommen schätzungsweise jährlich in die Meere. 80 Prozent dieser Abfälle wird über die Flüsse vom Land ins Meer geschwemmt.

• 70 Prozent des Mülls sinkt auf den Meeresboden, 15 Prozent treibt auf der Oberfläche, weitere 15 Prozent des Schwemmguts landet irgendwann an den Küsten.

• Textilien aus synthetischen Fasern oder speziell aus Fleece verlieren bei jedem Waschgang bis zu 1’900 Kunststofffasern. Gleiches gilt für Peelingprodukte, die oft Plastikkügelchen aus Polyethylen enthalten. Diese Partikel passieren die Kläranlagen und gelangen ungefiltert ins Wasser.

• Am «International Coastal Cleanup Day 2010» wurden 41’420 Plastikspielzeuge und 32’224 Ballone in den USA von Stränden eingesammelt. Ballone, die bei Wettbewerben mit Heliumgas gefüllt und mitsamt Schnüren in den Himmel entlassen werden, können im Meer zu tückischen Fallen für Tiere werden.

• Es gibt keinen Quadratkilometer Meerwasser mehr, der frei ist von Plastikteilen. Mikroplastik ist ein zentraler Teil des Problems. Diese Mikropartikel (kleiner als 5 mm) gelangen auf unterschiedlichen Wegen in die Meere. Neben dem Zerfall von Plastik durch Reibung und UV-Strahlung, sind Plastikpellets, die als Rohstoff für die Herstellung von Kunststoffprodukten dienen, ein gewichtiger Anteil dieser Müllsorte.

In den Weltmeeren rotieren fünf gigantische Plastikmüllstrudel. Zum Beispiel der «Great Pacific Garbage Patch»: Die Strömungen im nördlichen Pazifik verlaufen so, dass früher oder später jedes schwimmende Objekt, das von den Küsten Japans Chinas, Russland, Koreas, den USA und Kanadas ins Meer gelangt, in Hawaii stranden könnte – auch Schwemmgut aus der AKW-Katastrophe von Fukushima.

• Geschätzte Abbauzeiten von Schwemmgut: Papiertuch 2-4 Wochen; Zeitung 6 Wochen; Kartonverpackung 2 Monate; Milchkarton 3 Monate; Zigarettenkippe 1-5 Jahre; Wollsocken 1-5 Jahre; Plastiktüte 10-20 Jahre; Styroporbecher 50 Jahre; Konservendose 50 Jahre; Schaumstoffboje 50 Jahre; Aludose 200 Jahre;. Sixpackringe 400 Jahre; Einwegwindel 450 Jahre; Plastikflasche 450 Jahre; Angelschnur 600 Jahre;

WAS MACHT PLASTIK MIT TIEREN?

• Tiere verwechseln Plastikstücke oft mit Nahrung. Vögel fressen PET-Flaschendeckel, Feuerzeuge und Plastikbruchstücke. In toten Schildkröten wurden markant viele Überbleibsel von Plastiktüten gezählt.

• Planktonfressende Organismen nehmen mit ihrem Futter auch Mikroplastik auf. Untersuchungen von Wasserproben aus dem Nordpazifik ergaben, dass in der oberen Meerwasserschicht stellenweise 46mal mehr Plastik als Plankton vorkommt.

• Studien deckten auf, dass 95 Prozent verendeter Eissturmvögel Plastik in ihren Mägen haben.

• Nach Schätzungen sterben jährlich zwischen 50’000 und 90’000 Seebären (Robbenart), weil sie sich im Müll verfangen. Von über 260 Tierarten ist bekannt, dass sie sich im Müll verfangen oder ihn fressen.

• 35 Prozent der in einer Studie untersuchten Plankton fressenden Tiere hatten Plastik aufgenommen.

• Gewisse Algen- und Planktonarten sind für ihre Fortpflanzung auf schwimmendes Material angewiesen, auf dem sie ihre Eier ablegen können. Früher benutzten sie dazu pflanzliche Stoffe, die schnell zerfielen. Nun dienen ihnen Plastikteile als Floss, sie werden von den Strömungen über weite Strecken getragen. So gelangen diese Arten in neue Lebensräume wo sie das herrschende ökologische Gleichgewicht bedrohen.

GIBT ES EIN ZURÜCK?

• Fast alle Kunststoffe sind wiederverwertbar. Die besten Recycling-Lösungen gibt es für sortenreines Material, die Prozesse bei Kunststoffgemischen sind hingegen kompliziert. Die einfachste und kostengünstigste Beseitigung bleibt oft die Verbrennung.

• Sind Biokunststoffe eine Alternative zu konventionellen Kunststoffen? Mit steigendem Erdölpreis sind biobasierte Kunststoffe für die Industrie interessant. Aber sie werden kritisch beurteilt, weil das Ausgangsmaterial der Nahrungsmittelproduktion entzogen wird. Über den ganzen Lebenszyklus hinweg schneiden sie zudem ökologisch nicht unbedingt besser ab als erdölbasierte Kunststoffe.

• In Frankreich, China und Indien sind Plastiktüten inzwischen generell oder in der leichten Version verboten. In Hawaii tritt das Verbot als erstem US-Staat 2015 in Kraft.

• In der Schweiz werden PET-Flaschen recycliert. Dahinter kommt fast nichts. Jetzt nimmt die Migros einen Anlauf. Bis Ende 2013 will sie neben PE-Milchflaschen auch alle anderen Plastikflaschen zurücknehmen, also Shampoo-, Duschgel-, Putz- und Waschmittelflaschen Sie rechnet mit zusätzlichen 2’000 Tonnen Plastik pro Jahr. Konkurrent Coop macht nicht mit.

• «Zero Waste» ist ein visionärer und ganzheitlicher Ansatz, der darauf abzielt, Abfall systematisch zu verhindern. Der Fokus geht weg von einem isolierten Abfallmanagement zu einem Set von Massnahmen in den Bereichen Design, Produktion, Konsum und Recycling. Strategisch wichtig sind die Brückenbildung zwischen den jeweiligen Akteuren und eine Regulierung der Verantwortlichkeiten.

• Ein auf lange Sicht umweltverträglicher Konsum ist nur über gesamtgesellschaftliche Veränderung und teilweise auch Verzicht möglich.

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«Endstation Meer?»; Das Plastikmüll-Projekt; Museum für Gestaltung, 8005 Zürich; Die Ausstellung dauert noch bis zum 23. September. Sie wird nicht verlängert und danach im Ausland gezeigt. Öffnungszeiten: DI-SO 10-17 Uhr; MI 10-20 Uhr. Der Eintritt ist gratis. Zusätzlich gibt es verschiedene Angebote: u. a. Designwerkstatt und Gesprächsrunden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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