Erfundene Roma-Überfälle und die Folgen
Das Titelbild des Roma-Knaben mit der Pistole rückt die «Weltwoche» ins Visier der Justiz: Die Zürcher Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Verstosses gegen die Rassismus-Strafnorm. Der journalistische Populismus des Wochenblattes ist zwar üble Stimmungsmache; aber er ist noch harmlos verglichen mit dem, was derzeit vor allem in Ostmittel- und Südosteuropa vor sich geht. Die Lage der Roma verschlimmert sich teils dramatisch. Und auch hier spielen verschiedene Medien eine unrühmliche Rolle.
«Zielgerichtete Kampagne»
Die Roma-Mitglieder des tschechischen nationalen Rats der Minderheiten sprechen mittlerweile von einer «zielgerichteten Kampagne» verschiedener Medien. Hauptkritikpunkt: Bei der Berichterstattung über Straftaten bezeichneten diverse Medien Roma als Täter, ohne dass dafür eindeutige Beweise vorlägen. Noch schlimmer: Im Mai dieses Jahres sind zwei frei erfundene Geschichten von den Medien unüberprüft weiterverbreitet worden. So berichtete das Fernsehen von einem 15-jährigen Mädchen, das behauptete, von drei Roma angegriffen und verletzt worden zu sein. Dabei hatte sich das Mädchen die Verletzungen selbst zugefügt, wie die Polizei später feststellte.
Selbstunfall als Überfall ausgegeben
Das jüngste Beispiel stammt ebenfalls aus Tschechien. Ein Knabe verunglückte bei einer Mutprobe vor Freunden. Er turnte an einem Treppengeländer herum, verlor das Gleichgewicht und stürzte auf das Geländer der unteren Etage. Dabei verletzte er sich so schwer, dass ihm eine Niere entfernt werden musste. Aus Angst vor seiner Mutter erzählte der Fünfzehnjährige, er sei von einer Roma-Bande überfallen worden. Die Mutter mobilisierte Polizei und Medien. Während die Polizei sich korrekt verhielt und von Beginn weg Zweifel an der Geschichte hegte, griffen die Medien voll zu: Selbst in Qualitätszeitungen wurde die Story kolportiert – ohne zusätzliche Recherchen. Rechtsextreme marschierten auf, ein Schlagersänger gab ein Konzert für das vermeintliche Opfer. Als der Schwindel des Halbwüchsigen aufflog, war der Schaden schon angerichtet.
Mit Molotowcocktails gegen Roma
Dabei läuft die Geschichte eher umgekehrt, wie «Welt-online» (siehe Link unten) schreibt: «Seit Jahr und Tag gibt es schlimme Übergriffe von ‚weissen‘ Tschechen auf die dunkelhäutigen Roma und Sinti, Molotowcocktails fliegen in armselige Behausungen von Roma-Familien. Derlei erschüttert die Tschechen zwar; zu einem generellen Umdenken in ihrem latent gestörten Verhältnis zu den Roma aber hat es nicht geführt: Roma werden als Nachbarn weniger gelitten als je, sagen Umfragen.» Ganze Gemeinden siedeln Roma an den Ortsrand um. In Tschechien gibt es mittlerweile hunderte von Roma-Ghettos. Trotz aller Stimmungsmache: «Belege für Übergriffe von Angehörigen der Roma-Minderheit fanden sich nicht», schreibt «Welt-online».
Auch der tschechische Soziologe Jakub Macek führt die dramatischen Folgen der Lügengeschichte des Knaben auf tief verwurzelte Vorurteile zurück: «Die Medien lieben Stereotype. Und ein solches Stereotyp, das in der tschechischen Gesellschaft seit vielen Jahren lebendig ist, ist das vom Verhalten der Roma-Minderheit. Die Daten zeigen aber, dass Roma nur in wenigen Fällen mit dem typischen Bild von Gewalttätern übereinstimmen.», sagte Macek auf Radio Prag (siehe Link unten).
Ungarische Zeitung schaut genau hin
Es ist beunruhigend, wie stark die Roma, die zu Hunderttausenden dem nationalsozialistischen Völkermord zum Opfer fielen, heute wieder sozial, wirtschaftlich und politisch an den Rand gedrängt, diffamiert und diskriminiert werden. Deshalb ist es besonders verdienstvoll, dass die deutschsprachige ungarische Zeitung «Pester Lloyd» den Länderbericht 2011 von Amnesty International (AI) auf die Lage der Roma hin durchforstet hat. Was da für die EU-Länder Ungarn, Rumänien und die Slowakei zusammengetragen worden ist, lässt aufhorchen (siehe Link unten).
Mauern mitten durch Kindergärten
Besonders schlimm ist gemäss AI-Bericht die Lage der Roma in der Slowakei. Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung: Von Zwangssterilisationen an Roma-Frauen ist die Rede, von Mauerbauten mitten durch Kindergärten, um Roma und Mehrheitsbevölkerung zu trennen, von automatischer Zuweisung von Romakindern an Sonderschulen ohne individuelle Prüfung, von Umsiedlungen, Siedlungsabrissen, Verweigerung von Gesundheitsversorgung und Sozialhilfe. Zwangsumsiedlungen gibt es auch in Rumänien. In einer Ortschaft ist zudem eine Mauer um eine Roma-Siedlung errichtet worden.
Der «Pester Lloyd» kritisiert Amnesty International gar, dass die Lage der Roma in Ungarn noch zu rosig geschildert werde: «Nicht im AI-Bericht enthalten sind: der durch Fidesz-Gesetze gestützte Rassismus gegen Roma bei der Umsetzung der lokalen Beschäftigungsprogramme, die fortgesetzte Segregation im Schulbereich, der mangelnde Zugang zu Rechtsschutz und –beratung, die nicht vorhandene Vertretung in Exekutive und Legislative». Als besonders deprimierend empfindet es die Zeitung, dass von der 2011 angekündigten Roma-Strategie der Europäischen Union so gut wie nichts zu spüren sei.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine