Politiker mit Diplomabschluss
Immer mehr Leute wenden sich von der Lokalpolitik ab, also ausgerechnet von jener Politik, die im wahrsten Sinne des Wortes am nächstliegenden ist. Dabei waren lokale Wahlen in der Schweiz lange Zeit die wichtigsten Urnengänge: Bis vor rund zehn Jahren beteiligten sich mehr Stimmberechtigte an lokalen Wahlen als an kantonalen und eidgenössischen. Doch nun hat sich der Trend umgekehrt: Am meisten Beachtung finden nationale Wahlen, vor allem in kleineren Gemeinden ist die Stimmbeteiligung bei Gemeindewahlen teils dramatisch eingebrochen. Der Politologe Andreas Ladner spricht deshalb von einer «Entpolitisierung der lokalen Politik» und einer «Nationalisierung des politischen Interesses». Er hat in einer grossen Studie im vergangenen Jahr mit dem Titel «Wahlen in den Schweizer Gemeinden» den Trend der letzten 20 Jahre untersucht (siehe Link unten).
Politischer Wettbewerb leidet
Diese Abkehr vom Lokalen macht es immer schwieriger, das politische Personal zu rekrutieren. Und darunter leidet wiederum der politische Wettbewerb in den kleineren Gemeinden. «Nur in etwas mehr als einem Fünftel der Gemeinden sind die lokalen Wahlen überhaupt umstritten», schreibt Ladner. Und «nur in rund der Hälfte der Gemeinden stehen mehr Kandidierende als Sitze zur Verfügung.» In grösseren Gemeinden und in den Städten gilt das nicht, dort gibt es nach wie vor einen animierten Konkurrenzkampf.
Zerfallender Mythos von Basisdemokratie
Der Mythos von der Gemeinde als Hort von Bürgernähe und Basisdemokratie hat viel von seinem früheren Glanz eingebüsst. Auch die Gemeindeautonomie als zentraler Pfeiler des helvetischen Föderalismus verliert mit dieser Entwicklung ihre innere Substanz. Die rund 2550 Schweizer Gemeinden werden von über 15 000 Exekutivmitgliedern geführt, die meisten von ihnen sind Milizpolitiker im Nebenamt. Dass dieses Reservoir immer schwieriger aufzufüllen ist, hat zahlreiche Ursachen: Individualisierung der Gesellschaft, immer häufigere Trennung von Wohn- und Arbeitsort, zunehmende Belastung in Beruf und Familie, wenig Begeisterung von Arbeitgebern für politisches Engagement von Mitarbeitenden.
Anspruchsvolle Führungsposition
Und noch etwas: Die Anforderungen an Gemeindepolitikerinnen und -politiker sind gestiegen. Wegen der wachsenden Regelungsdichte stellen sich immer häufiger schwierige juristische Fragen, und die Zusammenarbeit mit kantonalen Behörden, Nachbargemeinden und zahlreichen öffentlichen und privaten Institutionen macht die kommunale Regierungstätigkeit laufend komplexer. Die Soziologen Urs Meuli und Hans Geser, die zusammen mit anderen Autoren die Studie «Exekutivmitglieder in den Schweizer Gemeinden» (siehe Link unten) verfasst haben, kommen zum Schluss: «Ein Exekutivamt in einer mittelgrossen Gemeinde kann heute mit einer Führungsposition in einem mittleren Betrieb verglichen werden».
Dipl. Gemeindepolitiker – ein Novum
Viele, die plötzlich in Amt und Würden stehen, spüren schmerzlich ihre Wissenslücken. Sie wissen zum Beispiel kaum, an welchen Kennzahlen man gesunde Gemeindefinanzen festmachen kann, was eine Legislaturplanung genau ist und wie interkommunale Zusammenarbeit funktioniert. Bisher konnte man sich das nötige Rüstzeug für diese verantwortungsvolle Position nur durch Erfahrung aneignen – oder durch spezielle Weiterbildungskurse in einzelnen Bereichen.
Nun können sich Milizpolitikerinnen und –politiker in einem Generalistenkurs für kommunale Parlaments- und Exekutivämter fit machen. Nach einem Pilotversuch im vergangenen Jahr bietet das Bildungszentrum für Wirtschaft und Dienstleistung Bern-Wankdorf (bwd) seit Ende April 2012 erstmals einen regulären einjährigen Diplomlehrgang Kommunalpolitik an. In 110 Lektionen lernen die zukünftigen diplomierten Gemeindepolitikerinnen und -politiker alles Relevante rund um die Gemeinde kennen. In seiner Art ist der Lehrgang landesweit einzigartig. «Mir ist nichts direkt Vergleichbares bekannt», sagt bwd-Direktionsmitglied Thomas Schneider; er habe selbst auch gestaunt, als er sich beim Aufbau des Kurses in anderen Kantonen herumgehört habe. Nur der Kanton Aargau hat Mitte des vergangenen Jahrzehnts einen Kurs mit ähnlich breiter Palette angeboten. Er wurde jedoch wegen mangelnder Nachfrage wieder eingestellt.
Grosse Nachfrage
Der Diplomkurs in Bern stösst dagegen auf rege Nachfrage. Man habe nur 24 Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer berücksichtigen können, die übrigen seien auf nächstes Jahr vertröstet worden, erklärt Thomas Schneider. Nun drücken also 24 bernische Gemeindepräsidentinnen, Gemeinderäte, Gemeindeparlamentarierinnen, Kommissionsmitglieder und Gemeinderatskandidaten aller Parteien während eines Jahres gemeinsam die Schulbank – und es kommt einiges auf sie zu: Von Gemeindefinanzen über Sozialpolitik, Raumplanungs- und Baurecht, öffentliche Sicherheit, Umweltschutz, Ver- und Entsorgung, Bildung, Jugend, Organisationsrecht, Führungsinstrumente bis zu politischer Kommunikation, politischer Theorie, Gesellschaftspolitik und Personalführung; auch Rhetorik und vernetztes Denken werden geboten.
Die richtige Rolle finden
Die Ausbildung wird in Kooperation mit dem Verband bernischer Gemeinden (VBG) und dem kantonalen Amt für Gemeinden und Raumordnung des Kantons Bern (AGR) durchgeführt, die Dozierenden stammen aus Verwaltung, Politik und Wissenschaft. Ziel des Lehrgangs ist es nicht, die Teilnehmenden zu Verwaltungsspezialisten auszubilden, sondern zu kommunalpolitischen Allroundern. Das AGR, das unter anderem Beratungsorgan der Gemeinden ist, hat ein Interesse daran, dass in den Gemeindeexekutiven kompetente Leute sitzen. Man habe immer wieder festgestellt, dass es für Milizpolitiker nicht einfach sei, sich im Verhältnis zu den Gemeindekadern richtig zu positionieren und die richtige Rolle zu finden, sagt AGR-Chef Christoph Miesch; deshalb habe man mitgeholfen, diesen Diplomlehrgang auf die Beine zu stellen. Auch Claudia Hametner vom Schweizerischen Gemeindeverband findet es sehr wichtig, «dass Exekutivpolitiker im Milizsystem befähigt werden, die Verwaltung richtig zu führen und sich auf die strategische Ebene zu konzentrieren.»
Der Lehrgang soll den Gemeindepolitikern wieder zu mehr Ansehen und Wertschätzung verhelfen. Gemäss VBG-Geschäftsführer Daniel Arn geht es auch darum, den Milizpolitikern mehr Selbstvertrauen zu vermitteln und sie darüber zu informieren, «wo man sich schlau macht». Zudem könnten die Kursteilnehmenden «während der Ausbildung ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit anderen Interessierten austauschen.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Teilnehmer des im Beitrag erwähnten Lehrgangs und SP-Gemeinderatskandidat in Unterseen.
Le canton de Vaud connaît une formation similaire, mais a priori moins complète : ainsi, le Centre d’éducation permanente pour la fonction publique (CEP) a mis sur pied, depuis quelques années déjà, une formation ciblée qui s’intitule «L’Etat pour les communes» dont certains cours s’adressent directement aux élus (membres des municipalités etc).
Avec mes salutations confédérales. Elisabeth Adam, Lausanne