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"Tagesschau"-Schlagzeile zur Griechenland-Wahl © SF

SF-Information: Auf dem Schlingerkurs

Robert Ruoff /  Die SF-Tagesschau hat Mühe mit der Demokratie. Wie andere Medien offenbar auch, unter anderem Tamedia.

In den freien Bergen im Jura, wo ich mein Zelt aufgeschlagen habe, hat man einen anderen Blick auf die Welt. Wohlbestallte Basler nennen die Freiberge wie den Kanton Jura «das Armenhaus der Schweiz», und in Zürich weiss man kaum noch, wo die Franches-Montagnes liegen. Aber das Selbstbewusstsein ist ungebrochen. Auf die anzügliche Frage einer DRS-Radiomoderatorin hat die jurassische Regierungspräsidentin einmal schlicht geantwortet: «Dafür ist bei uns der Kaffee billiger und die Mieten sind niedriger.»

Die Freiberge sind das Land, wo Pferde und Kühe auf den bewaldeten Weiden – den «pâturages boisés» – zwischen Tannen, Buchen und Ahorn umherstreifen und wo die Menschen ihr Schicksal selber in die Hand nehmen, auch gegen den Willen der Obrigkeit. Wie vor wenigen Wochen, als die Mehrheit der Gemeindepräsidenten mit einem Projekt zur Fusion der 13 Freiberge Gemeinden krachend scheiterte. Die Bauern fürchteten um ihre angestammten Rechte auf den Juraweiden, die sie unter anderem im Unabhängigkeitskampf vor dreissig Jahren der Berner Obrigkeit und dem Eidgenössischen Militärdepartement abgetrotzt hatten. Und die Unternehmer, die in den Juradörfern diskret und unauffällig für die weite Welt produzieren, wollten sich ihre Gestaltungsfreiheit nicht von einer bürokratischen Zentrale vorschreiben lassen. Die Erinnerung an den jurassischen Freiheitskampf ist in allen Schichten immer noch lebendig.

Und gegen Schicksalsschläge ergreifen sie die Eigeninitiative. Wie der Rentner Norbert V., den ich auf seinen Gesundheitsmärschen auf den Feldwegen zwischen Dorf und Kirche regelmässig treffe. Vor Jahren, in der grossen Krise, als sein Betrieb geschlossen werden sollte, hat er zusammen mit einem Partner die Fabrik gekauft und mit sieben Leuten weiter produziert: hochwertige Uhrenteile – «haut de gamme!» – und an die grossen Marken im Jurabogen und in der Welt geliefert. Vor zwei Jahren hat er an ein Grossunternehmen verkauft, mit 125 Arbeitsplätzen, und der Betrieb wächst weiter. Norbert bleibt als Teilzeitberater und Ausbilder. Die Arbeitslosenrate in den Franches-Montagnes beträgt zurzeit 1.9 Prozent – das «Armenhaus der Schweiz» floriert. Ganz still und leise. Und ohne fremde Vögte.

An all das habe ich gedacht, als ich am Sonntag die «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens zu den Wahlen in Griechenland gehört habe, im «Armenhaus Europas».

SF-Tagesschau: Die «extremen» Griechen

«Gewählt haben auch die Griechen» hiess es da – «auch», denn selbstverständlich genossen die Franzosen Vorrang, wenn auch das Ergebnis noch schiere Prognose war und noch nicht einmal offizielle Hochrechnung. Aber das war doch wenigstens eine seriöse Wahl zwischen zwei seriösen Kandidaten zweier seriöser Parteien.

Die Griechen hingegen, verkündete die Moderatorin, schon etwas erschöpft von den Schaltungen nach Frankreich rechts und Frankreich links und Frankreich Tulle, wo weder François Hollande noch Nicolas Sarkozy zu sehen war sondern nur das Trio der Korrespondenten, die ihre vorbesprochenen Einschätzungen ablieferten: Adrian Arnold, Michael Gerber und (später) Alexandra Gubser: Klar, souverän und sachkundig, im Sinne des Betrachters. Das hielten sie denn auch den ganzen Abend und die folgenden Tage so.

In Hellas hingegen war das eigentlich gar keine Wahl, wenn man der Moderatorin glauben konnte, sondern die Öffnung eines Überdruckventils. Die Griechen konnten endlich «ihrem gewaltigen Frust Luft machen», und dieser «Frust der Wähler» prägte denn auch diese «Schicksalswahl», in der, wie die Moderatorin erklärte, «die kleinen extremen Parteien auch extremen Zulauf gewonnen» haben, «rechts wie links». Und so fragte sie dann verzweifelt den ganz allein gelassenen Werner van Gent:» Wie soll Griechenland so regiert werden können?»

Selbstverständlich überhaupt nicht. Nur ist das nicht neu, und das müsste selbst in Leutschenbach bekannt sein. Denn seit vor zwei Jahren der griechische Bankrott nicht mehr zu verbergen war, ist Griechenland zunehmend zum Protektorat der Troika geworden, jener Dreiheit aus Europäischer Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank, die den Griechen das Spardiktat aufgezwungen hat, das nun in einer demokratischen Wahl unübersehbar zu Bruch gegangen ist.

Die Mühe mit der Demokratie

Aber am Leutschenbach hat man so seine Mühe mit der Demokratie. Bis heute ist mir der Aufschrei des Entsetzens in der gleichen «Tagesschau» in Erinnerung, als der damalige Ministerpräsident Papandreou das Sparprogramm der Troika einem Referendum des griechischen Volkes unterwerfen wollte. «Die Griechen», die doch so offenkundig über ihre Verhältnisse gelebt hatten, sollten nun auch noch das Recht bekommen, «Ja» oder «Nein» zu sagen zum härtesten Sparprogramm in Europa nach dem 2.Weltkrieg. – Nein, Bevormundung war angesagt und bleibt das offenbar auch künftig.

Demokratie ist dann, wenn das Wahlergebnis unseren Vorstellungen entspricht – sonst ist es «Frust der Wähler», die «kleinen extremen Parteien…extremen Zulauf» bringen, «links wie rechts». Das sagt uns die Schweizer «Tagesschau». Da schlägt dem nun schon nicht mehr geneigten Zuschauer die volle Ladung geballter Vorurteile entgegen. Links wird mit rechts gleichgesetzt, nationalsozialistische Fremdenfeinde mit einem radikalen Oppositionsbündnis, in dem sich klassische Linke mit einer historisch begründeten, antifaschistischen (!) Widerstandsbewegung und anderen Gruppierungen zusammengeschlossen hat, im Kampf gegen das Spardiktat.

Was ist daran überraschend, dass sich ein Volk radikalisiert, dem man über Jahre einschneidende Opfer zumutet, ohne jedes Mitspracherecht?

Und was ist daran «extrem», ein Sparprogramm abzulehnen, das denen, die schon fast gar nichts mehr haben, auch noch den letzten Rest, die letzten Pensionen, die letzten Einkünfte wegkürzen will? Ohne jede Aussicht auf Besserung zu Lebzeiten – auch für die junge Generation. Während die Reichen, die seit Jahrzehnten schon keine Steuern bezahlen, einmal mehr ungeschoren davon kommen, indem sie zuerst ihr Geld und dann sich selber in die Steueroasen ausserhalb des Euroraums verlagern: in die City von London, an den Genfer See oder einen anderen luxuriösen Ort, wo sie geschützt sind vor den Fahndern, die endlich auch von ihnen die Steuern eintreiben wollen. Das sagt nicht irgend ein griechischer Extremist, sondern Professor Thomas Straubhaar, der Schweizer Direktor des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts, in der ZDF-Dokumentation «Die Griechenland-Lüge».

Extrem: Das Spardiktat von Merkel-Sarkozy und Troika

Sind wirklich die «frustrierten» griechischen Wähler «extrem», oder sind es vielleicht die neoliberalen Ideologen der Troika mit Frau Merkel und Herrn Sarkozy im Hintergrund, die dem Volk eine Sparkur zumuten, das ihm die Lebensgrundlagen entzieht, die Wirtschaft stranguliert und den Niedergang nur noch beschleunigt – während die gleichen Politiker mit der griechischen Regierung gewinnbringende Milliardengeschäfte für Rüstungsgüter abschliessen?

Sind wirklich die griechischen Wählerinnen und Wähler unmündig – denn das ist doch wohl gemeint mit der überheblichen Moderation -, die sich nach der schier endlosen Geschichte von Lug und Trug von den etablierten Parteien abwenden? Oder ist dieser Wählerprotest nicht ganz einfach von zwingender politischer Logik?

«Scheitert Griechenland an der Demokratie?»

Aber die SF-«Tagesschau» steht nicht allein. Auch die Tamedia Einheitspresse hat Mühe mit dem griechischen Volk. «Scheitert Griechenland an der Demokratie?» titelt der «Tages-Anzeiger» zusammen mit dem Berner «Bund» in grossen Lettern auf der Wirtschaftsseite. Ganz und gar irreführend. Denn im Text beschreibt Artur Rutishauser nicht den Irrsinn der Wähler sondern den Irrsinn von Troika und Banken.

Die ganze Themenseite zeigt, dass die Sparvorgaben von Anfang an schlicht «unrealistisch» waren und «undurchsetzbar» sind. Sie beschreibt, wie die Banken billiges Geld zu hohen Zinsen an die griechische Regierung vergaben – und sich gerade noch rechtzeitig «aus der Affäre gezogen» haben. Und sie bestätigt, dass die gleichen Banken heute ihre Kreditwirtschaft an die Realwirtschaft zurückfahren – also an die Unternehmen, die reale Werte und sinnvolles Wachstum produzieren würden.

Aber dann gibt der Autor doch dem Bankexperten das letzte Wort, dem Chefökonomen der Bank Sarasin: «Es genügt ein verrückter Politiker, und es kommt zur Katastrophe».

«Verrückt» ist aus dieser Sicht der linke Oppositionspolitiker Alexis Tsipras. «Verrückt» waren und sind nicht die stets korrekt gekleideten Staats- und Parteiführer, die Griechenland während Jahrzehnten in einem internationalen Zusammenspiel in die Schuldenkrise geführt haben.

Der ganz alltägliche Wahnsinn der etablierten Politik

Hat nicht die griechische Regierung im Jahr 2000 für den Beitritt zum Euroraum die Staatsbilanz massiv gefälscht? War nicht der abgetretene Ministerpräsident Lucas Papademos zu dieser Zeit Gouverneur der griechischen Zentralbank – und damit verantwortlich für die Währungspolitik? Hat nicht die Europäische Union bereits 2004 festgestellt, dass Griechenland die Maastricht-Kriterien für die Grenzen der Neuverschuldung nicht einhält – und nichts unternommen? Bis Griechenland 2010 endgültig zahlungsunfähig war. War das nicht über mehr als ein Jahrzehnt der ganz alltägliche Wahnsinn der etablierten, sogenannt seriösen Politik?

All das – und noch mehr – kann man wissen. Und als Redaktion, die eine nationale «Tagesschau» produziert, muss man das wissen. Und es muss in einem thematischen Schwerpunkt zumindest aufscheinen; aber es gab in der «Tagesschau» nicht einmal den Hauch einer Andeutung. Am Sonntag nicht und am Montag nicht und am Dienstag nicht. Selbst ein – zu Recht hoch angesehener – Korrespondent wie Werner van Gent macht mit bei dem journalistischen Small Talk über die unvernünftige «Realitätsverweigerung» des griechischen Wahlvolks, das mit seiner Entscheidung eine Regierungsbildung unmöglich macht und die Notwendigkeit des Sparprogramms nicht einsehen will.

Realitätsverweigerung in der «Tagesschau»

Aber «Realitätsverweigerung» gibt es offenbar auch bei manchen SF-JournalistInnen. Für die «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens sind die neoliberalen Rezepte der Troika anscheinend noch immer der Weisheit letzter Schluss. Auch wenn am gleichen Tag im «Sonntag» die Experten von UBS und Credit Suisse den harten Sparkurs kritisieren, vor «Unruhen in Europa» warnen und ein milliardenschweres Wachstumsprogramm fördern. – Wenn sie am Leutschenbach wenigstens Zeitung lesen würden… – und wenn nicht den «Sonntag», dann vielleicht Paul Krugman in der «New York Times». Um andere Ansätze wenigstens zur Kenntnis zu nehmen und den Blick ein bisschen zu weiten.

Immerhin, in der Montags-«Tagesschau» kehrte dann mit Cornelia Boesch wohltuende Gelassenheit ein – und ein Hinweis auf den Sturm auf die Bastille, der wir «Liberté, Egalité» und nicht zuletzt «Fraternité» verdanken. Boesch sprach vom «Linksbündnis Syriza», das zweitstärkste Partei wurde, und der Brüsseler Korrespondent Jonas Projer erinnerte daran, dass die EU vor der Frage steht, wie sie ihre Politik durchsetzen kann – «wohlgemerkt mit demokratischen Mitteln». – Das ist der Service Public mit Bezug zu Grundwerten, den ich mir wünsche. Auf Schlingerkurs mir ärgerlichen Ausreissern kann ich verzichten. Definitiv.

Wie sagte doch der Nobelpreisträger Paul Krugman: « The French are revolting. The Greeks, too. And it’s about time.» Es ist höchste Zeit für die Revolte, denn die Rezepte der Sparpolitik funktionieren nicht.

Protest und Revolte: Teil der Demokratie

Die Revolte gegen das Spardiktat bei demokratischen Wahlen ist massvoll. Grössere Spannungen, militante Revolten, politische Unruhen sind zu erwarten, wenn die Wirtschaftspolitik in den Mittelmeerstaaten und im gesamten EU-Raum – bei aller berechtigten Finanzdisziplin – nicht erfolgreich auf Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen setzt, vor allem für die junge Generation.

Heute sind wir noch in der Phase der friedlichen Umwälzung. «Das Alte muss weg», ist das Motto. Mit Griechenlands Syriza, Frankreichs Sozialisten, Deutschlands Piraten – wohin die Reise gehen soll, ist noch ungeklärt. So, wie es ist, kann es nicht bleiben. Wir wissen nur noch nicht, wie es sein soll. – Aus dem Blickwinkel der Franches-Montagnes – der jurassischen Freien Berge – mit ihrer anarchistisch imprägnierten Geschichte, kann das weder Schrecken noch Entsetzen auslösen.

Im Medienghetto am Zürcher Leutschenbach ist das anders. Dort hat sich der Sinn für die Zeichen des Veränderung noch nicht durchgesetzt, und es fehlt das notwendige Vertrauen in den demokratischen Wandel, der sich manchmal auch ein bisschen turbulent vollzieht. Das Politikverständnis dort (und offenkundig auch anderswo) kristallisiert sich erkennbar noch immer und immer wieder um politische Führungsfiguren und die hergebrachten Institutionen der wirtschafts-politischen Macht. Und die Banken. Das Volk ist Zugabe.

Das war schon vor dreissig, vierzig, fünfzig Jahren überholt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine. Der Autor hat bis 2004 für SRG und Schweizer Fernsehen gearbeitet.

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Eine Meinung zu

  • Portrait_Werner_vanGent_2016
    am 14.05.2012 um 12:49 Uhr
    Permalink

    Stichwort Realitätsverweigerung: es ist unbestritten, dass das «Spar-Programm» der Troika Griechenland an den Rand des Kollaps gebracht hat, das haben wir auch in der Tagesschau so thematisiert. Die Meinung zahlreicher Griechen und Griechinnen, man könne so weitermachen, wie bis anhin, ohne Sparprogramm, mit Euro, ohne die Schulden zurückzuzahlen, zeugt aber vom erheblichen Realitätsverlust. Es ist bedauerlich, dass die griechischen Wählerschaft nicht mehr die Mut, die Kraft sowie die Geduld aufbringen kann, einen sich in europa abzeichnenden Kurs-Wandel weg vom neo-liberalen Zum-Tode-Sparen abzuwarten – ein Wandel, der im Übrigen in der Schweizer Medienlandschaft auch noch nicht ausreichend reflektiert wurde. Fairerweise müsste man den Vorwurf der Realitätsverweigerung also auch dem neo-liberalen Lager machen, doch das ist nicht in erster Linie die Aufgabe eines Griechenland-Korrespondenten.

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