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New Yorker Börse: Grenzenloses Vertrauen in die Finanzmathematik machte die Krise erst möglich © Ryan Lawler/Wikimedia Commons

Der ETH-Weltsimulator wäre das Ende der Politik

Kurt Marti /  Mit dem Milliarden-Projekt FuturICT wollen ETH-Forscher Finanzkrisen und Kriege vorausberechnen. Das ist eine gefährliche Illusion.

Ein Forschungsteam um ETH-Professor Dirk Helbing möchte mit dem Projekt FuturICT politische und wirtschaftliche Krisen vorausberechnen und letztlich vermeiden. Beispielsweise Finanzkrisen, Kriege, Hungersnöte, Völkerwanderungen, Kriege und dergleichen mehr. Dieser Weltsimulator soll von Daten aus dem Internet, aus Twitter und aus Archiven aller Art gefüttert werden. Mittels Computer-Simulation soll er am Schluss Lösungen zuhanden von Entscheidungsträgern ausspucken.

Eine Milliarde Euro für den phänomenalen ETH-Weltsimulator

FuturICT spekuliert auf eine Milliarde Euro, mit welchen das 8. Forschungsprogramm der EU lockt. Zur Zeit läuft noch das 7. Forschungsprogramm (2007 bis 2013), welches insgesamt 60 Milliarden Franken zur Verfügung hat. Für das nächste Forschungsprogramm von 2014 bis 2020 sind gegen 100 Milliarden Franken vorgesehen. Über die Vergabe der Forschungsgelder entscheidet der Rat der Europäischen Union zusammen mit dem Europäischen Parlament. Im Jahr 2009 zahlte die Schweiz rund 700 Millionen Franken ein und erhielt Forschungsaufträge für 560 Millionen. 42 Prozent dieser Forschungsgelder gingen an die ETH Zürich und Lausanne, 27 Prozent an die Universitäten und der Rest an private Unternehmen.

Gewagter Vergleich mit Galileos Paradigmenwechsel

FuturICT steht unter Leitung der ETH Zürich und dem University College of London. Zum Netzwerk gehören 51 Hochschulen aus 16 Ländern, dazu Partner aus der Industrie, wie das Internetportal Yahoo und die Telecom Italia.

Der Physiker Helbing verströmt grossen Optimismus, denn schliesslich geht es um eine Milliarde Euro. Er vergleicht das Projekt sogar mit dem «Paradigmenwechsel zu Zeiten von Galileo Galilei». Das ist ziemlich hoch gegriffen, denn im Grund handelt es sich bloss um eine besonders komplexe «Wetterprognose» für die politischen und wirtschaftlichen Systeme über den gesamten Globus. Bekanntlich bekunden die Meteorologen bereits bei einem vergleichsweise simplen System wie dem Wetter schon Mühe, Vorhersagen über eine Woche zu machen.

Eine moderne Version des Laplaceschen Dämons

Der ETH-Weltsimulator ist im Grunde eine moderne Version des berühmten Laplaceschen Dämons. Der französische Mathematiker, Physiker und Astronom Pierre-Simon Laplace hat diesen Dämon in seinem «Essai philosophique sur les probabilités» (1814) als Metapher entworfen. Der Dämon kennt alle Naturgesetze und alle Anfangsbedingungen und kann daraus jeden zukünftigen Zustand der Welt berechnen. Dahinter steckt ein streng deterministisches Weltbild, das in den folgenden zwei Jahrhunderten längstens Schiffbruch erlitten hat. Auch der Laplacesche Dämon ist längst tot. Den wissenschaftlichen Todesstoss versetzten ihm nacheinander das Dreikörperproblem, die Relativitätstheorie, die Quantentheorie und die Chaostheorie.

Verblüffende Ähnlichkeit mit Marx und Engels

Laut ETH-Professor Helbing lassen sich komplexe Systeme schwer überschauen. Deshalb propagiert der studierte Physiker eine «Physik der Finanzmärkte». Die Finanzströme vergleicht er «mit dem Energie- oder Wärmestrom in einer Flüssigkeit, die von unten her erhitzt wird, dann transportiert der Wärmestrom Energie (Kapital) von der Heizquelle (den Kapitalgebern) zur Oberfläche der Flüssigkeit (Unternehmen oder Staaten mit Kapitalbedarf)».

Solche Vorstellungen muten in der heutigen Welt naiv an. Sie erinnern verblüffend an den Dialektischen Materialismus, welcher von Karl Marx und Friedrich Engels vor über 150 Jahren entwickelt wurde. Beispielsweise das universale Entwicklungsgesetz vom Umschlagen der Quantität in eine neue Qualität. In seinem Werk «Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft» beschreibt Engels die «Veränderung der Aggregatzustände des Wassers, das unter Normalluftdruck bei 0° C aus dem flüssigen in den festen, und bei 100° C aus dem flüssigen in den luftförmigen Zustand übergeht, wo also an diesen beiden Wendepunkten die bloße quantitative Veränderung der Temperatur einen qualitativ veränderten Zustand des Wassers herbeiführt.»

Nicht nur gefährlich, sondern auch das Ende der Politik

Die Finanzkrise wurde erst durch das grenzenlose Vertrauen der Ökonomen in die finanzmathematischen Modelle ermöglicht. Wenn der Physiker Helbing also die Finanzkrisen mit noch mehr Finanzmathematik verhindern will, dann ist er auf dem Holzweg. Finanz- und Wirtschaftskrisen, Kriege, Hungersnöte, Völkerwanderungen und Naturkatastrophen sind so komplex, dass eine einigermassen brauchbare Berechnung nur ein allwissender Laplacescher Dämon liefern könnte. Zudem sind die Informationen, die Helbing vor allem aus dem Internet nehmen will, lückenhaft und interessegebunden.

Auch die Simulationsprogramme arbeiten mit Randbedingungen, die jemand setzen muss. Zudem verändern sich die Randbedingungen in der Zukunft. Der Weltsimulator erweckt den Eindruck wissenschaftlicher Genauigkeit, die er nicht liefern kann. Wenn sich Entscheidungsträger eines Tages darauf verlassen würden, dann wäre das nicht nur eine gefährliche Illusion, sondern auch das Ende der Politik. Die Regierungen würden zu Marionetten dagradiert und demokratische Prozesse überflüssig.

Neue Modelle des Wirtschaftens statt einen grössenwahnsinnigen Weltsimulator

Es geht heute nicht darum, zukünftige Krisen mit Weltsimulatoren irgendwie vorauszuberechnen, sondern um konkrete politische Massnahmen. Dass die Klimaveränderung zu erhöhter Migration führen und dass der hohe Erdölverbrauch kriegerische Auseinandersetzungen auslösen kann, das wissen wir auch ohne milliardenteure Simulatoren. Ebenso wissen wir, dass das heutige Wirtschaftssystem verändert werden muss. Statt Milliarden in einen grössenwahnsinnigen Weltsimultor zu verpulvern, müsste das EU-Forschungsprogramm neue Modelle des Wirtschaftens fördern. Statt mit illusionären Zukunftsberechnungen müsste man sich endlich mit der Gegenwart beschäftigen.


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