Sterbehilfe: Neuer Präzedenzfall in Deutschland
(Red.) Sterbehilfe ist in Deutschland noch weitgehend ein Tabu, um ja keine Erinnerungen an die rassistische Euthanasie während des Nazi-Regimes zu wecken. In den Berufsordnungen der deutschen Landesärztekammern steht noch heute die strikte Regel: «Ärztinnen und Ärzte dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.»
Deshalb kommen viele leidende und verzweifelte Deutsche zum Sterben in die Schweiz, wo ihnen die Beratung und Hilfe einer Sterbehilfeorganisation zur Verfügung stehen.
Jetzt hat das Berliner Verwaltungsgericht entschieden, dass Landesärztekammern den ärztlich assistierten Freitod nicht uneingeschränkt verbieten dürfen. Dies wiederum provozierte eine geharnischte Reaktion von Winfried Kluth, Professor für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg, den wir hier zur Diskussion stellen.
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Die deutsche Ärzteschaft hat sich in den letzten Jahren immer wieder mit der Frage befasst, ob und in welcher Form Ärzte todkranken Patienten so genannte Sterbehilfe mittels entsprechenden Medikamenten leisten dürfen. Vor dem Hintergrund «liberaler» Regelungen etwa in den Niederlanden und Belgien wurde mehrfach auch für Deutschland eine Lockerung des bestehenden berufsrechtlichen Verbots verlangt.
Bislang konnten sich die Befürworter einer solchen Lockerung nicht durchsetzen. In den Berufsordnungen der Landesärztekammern wird nach wie vor bewusst vom «Beistand für Sterbende» gesprochen und normiert: «Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.»
Gericht: Gewissensfreiheit bei enger Beziehung zu unheilbar Krankem tangiert
Ein Arzt aus dem Berliner Bezirk Zehlendorf hatte sich hierüber hinweggesetzt und sterbewilligen Personen Medikamente zur Durchführung der Selbsttötung überlassen. Im Jahr 2007 untersagte die Berliner Ärztekammer dem Mediziner, der zum damaligen Zeitpunkt Vorsitzender der Sterbehilfeorganisation Dignitate war, diese Praxis. Das Verbot stützte sie auf die genannten Regelungen der Berufsordnung sowie die Normen des Heilberufskammergesetzes zur Berufsaufsicht.
Diese Anordnung hat das Verwaltungsgericht (VG) Berlin nun aufgehoben. Das Gericht führt aus, dass die Ärztekammer die Berufsausübung ihrer Mitglieder zwar auf der Grundlage des Berliner Kammergesetzes überwachen und bei drohenden Pflichtverstössen Untersagungsverfügungen erlassen darf. Gemessen am verfassungsrechtlichen Massstab der Freiheit der Berufsausübung und der Gewissensfreiheit des Arztes sei es allerdings unzulässig, den ärztlich assistierten Suizid uneingeschränkt zu verbieten.
Diese Grundrechte sind nach Ansicht der Richter jedenfalls dann beschränkt, wenn der Arzt zu der betreffenden Person eine lang andauernde, enge persönliche Beziehung pflegt, und er in einen Gewissenskonflikt gerät, weil die Person eine frei verantwortliche Selbsttötung wünscht. Dabei müsse es sich allerdings um eine mit unerträglichen Schmerzen verbundene irreversible Krankheit handeln, für die alternative Mittel der Leidensbegrenzung nicht ausreichend zur Verfügung stehen (Urt. v. 02.04.2012, Az. VG 9 K 63.09).
VG hätte auf Beschreibung von Ausnahmen verzichten sollen
Die sehr kasuistisch anmutende Entscheidung steht in deutlichem Kontrast zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Bundesverfassungsgericht) zur Berufung von Ärzten auf die Gewissens- und Berufsfreiheit: 1999 hatten die Karlsruher Richter die Verfassungsbeschwerde eines Arztes zurückgewiesen, der sich durch die Beschränkung der Lebendspende bei Organen in seiner ärztlichen Berufs- und Gewissensfreiheit verletzt sah, weil er dadurch nicht in allen Fällen Leben retten könne. In einer vergleichbaren Konstellation hatte ein Arzt aus Gewissensgründen keine Lebendspende unter nicht verwandten Personen durchführen wollen. Beide Verfassungsbeschwerden wies das Bundesverfassungsgericht seinerzeit zurück und führte zur Begründung aus, dass beide Grundrechte ihre Schranke im Schutz von Freiheit und Leben anderer Personen finden (Beschl. v. 11.08.1999, Az. 1 BvR 2181/98, 1 BvR 2182/98, 1 BvR 2183/98). Ein Arzt hat deshalb keinen Anspruch darauf, überall und immer sein Gewissensgebot umzusetzen, das ihn zur Hilfe verpflichtet.
Die aktuelle Entscheidung aus Berlin steht auch nicht in Einklang mit der im Bereich der Beschränkung von Persönlichkeitsrechten anspruchsvollen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser hat bereits 2002 geurteilt, dass eine staatliche Regelung, die die Beihilfe zum Suizid uneingeschränkt unter Strafe stellt, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar ist. Diese Rechtsprechung wurde zuletzt 2011 bestätigt (Entscheidung Nr. 2346/02). (Der Europäische Gerichtshof hat jedoch ebenso eine Regelung einer solchen Beihilfe wie in Holland gebilligt. Die Red.)
Da die EMRK auch bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes berücksichtigt werden muss, erscheint die Abweichung der Berliner Richter insoweit besonders begründungsbedürftig. Es ist deshalb zu begrüssen, dass die Berufung zur Klärung dieser schwierigen Frage zugelassen wurde.
Man muss berücksichtigen, dass sich die deutsche Ärzteschaft nach intensiven Diskussionen für die Beibehaltung der restriktiven Regelung entschieden hat. Es handelt sich um eine Kernfrage des ärztlichen Selbstverständnisses, die auch das Vertrauen aller Patienten in die ärztliche Betreuung tangiert.
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Dies ist die leicht gekürzte Fassung, die in der LegalTribune.online erschienen ist.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor Professor Winfried Kluth ist Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Richter des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt.