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In den meisten Bächen im Gebirge herrscht noch immer Restwasser Null © SFV

Skandalöse Missstände beim Gesetzesvollzug

Kurt Marti /  Ein brisanter Bericht des Bundes zeigt auf: Nach 20 Jahren sind 63 Prozent der sanierungspflichtigen Gewässer noch nicht saniert.

Wie es dem Vollzug der Zweitwohnungs-Initiative ergehen könnte, zeigt das Beispiel der Restwasser-Sanierungen aufgrund des Gewässerschutzgesetzes eindrücklich auf: Die Obstruktion der Stromlobby und die Unwilligkeit der meisten Kantone haben den fristgemässen Vollzug verhindert und den Volkswillen missachtet.

Ein Kompromiss zwischen Umweltschutz und Wassernutzung

Das revidierte Gewässerschutzgesetz wurde 1992 mit einer Ja-Mehrheit von 66 Prozent vom Volk angenommen und ist seit dem 1. November 1992 in Kraft. Bundesrat und Parlament hatten dem Gesetz als Gegenvorschlag zur weitergehenden «Initiative zur Rettung unserer Gewässer» zugestimmt. Letztere wurde vom Volk mit 63 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Der Bundesrat lobte das Gesetz als «einen Kompromiss zwischen den Interessen des Umweltschutzes und jenen der Wassernutzung». Drei ausserparlamentarische Kommissionen (Akeret, Geiger, Aubert) hatten seit 1978 am Kompromiss gefeilt. Die eidgenössischen Räte hatten von 1987 bis 1991 darüber beraten und schliesslich zugestimmt.

Die meisten Kantone zeigten wenig Willen zum Vollzug

Das Gewässerschutzgesetz schreibt einerseits angemessene Restwassermengen bei neuen Wasserkraftwerk-Konzessionen vor und verlangt andererseits Restwasser-Sanierungen für bereits bestehende Wasserkraftwerke. Für den Vollzug sind die Kantone zuständig. Die Oberaufsicht liegt beim Bund, welcher die Pflicht hat, die Öffentlichkeit über den Stand der Sanierungen zu informieren. Laut Gesetz hätten die Kantone bis 1994 die Inventare der Wasserkraftwerke erstellen und bis 1997 die Sanierungsberichte beim Bund abliefern sollen. Bis 2007 sollten die Sanierungen abgeschlossen sein. Die Frist für die Inventare hielten nur vier Kantone (GR, UR, SH, SO) und die Frist für die Sanierungsberichte fünf Kantone (GR, FR, AR, AG, SO) ein. Die meisten Kantone zeigten wenig Willen zum Vollzug des Gesetzes, unterstützt von der Stromwirtschaft, welche kräftig auf die Bremse drückte.

Die Frist wurde kurzerhand von 2007 auf 2012 verlängert

Obwohl der Bund die Oberaufsicht hatte, verstrichen zehn Jahre ohne wesentliche Fortschritte. 2003 wollte die grüne Nationalrätin Franziska Teuscher vom zuständigen Bundesrat Moritz Leuenberger wissen, wie es um den Vollzug des Gesetzes stand. Dieser erklärte ebenso beschönigend wie vage, die Sanierungen seien in den meisten Kantonen im Gang und würden grösstenteils bis Ende 2007 umgesetzt. Eine gewagte Behauptung, denn der Bund hatte elf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes überhaupt keinen Überblick über den Vollzug. Konkret konnte er deshalb zum Stand des Vollzugs gar nichts sagen. Wegen des Entlastungsprogramms 2003 und weil die Kantone massiv im Verzug waren, wurde die Frist kurzerhand um fünf Jahre auf 2012 verlängert.

Nach 15 Jahren hatten acht Kantone noch keine Sanierungen durchgeführt

2007 wollte Nationalrätin Teuscher vom Bundesrat erneut wissen, wie der Stand der Restwasser-Sanierungen war. Jetzt rückte der Bundesrat erstmals mit der traurigen Wahrheit heraus, notabene 15 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes und kurz vor Ablauf der ursprünglichen Sanierungsfrist. Das Resultat fiel vernichtend aus. Die Kantone und die Stromwirtschaft hatten den Vollzug des Gesetzes quasi torpediert: Acht Kantone (AR, JU, NW, OW, SZ, TG, UR, VS) hatten noch überhaupt keine Restwassersanierungen durchgeführt und neun Kantone (BE, FR, GL, GR, LU, NE, TI, VD, ZH) hatten weniger als 20 Prozent der Wasserentnahmen saniert.

Bundesrat Leuenberger ermahnte die Kantone mit einem gutgemeinten Brief

Im Jahr 2009 startete das Bundesamt für Umwelt (BAFU) eine weitere Umfrage bei den Kantonen. Der Rücklauf war miserabel. Das BAFU verzichtete «aufgrund des qualitativ heterogenen Rücklaufs» auf eine Veröffentlichung der Resultate. Bundesrat Leuenberger forderte die Kantone mit einem gutgemeinten Brief auf, die Frist bis Ende 2012 einzuhalten. Im Jahr 2010 versuchte es das BAFU noch einmal und aktualisierte den Sanierungstand der Kantone. Dabei stellte es fest: Zwei Kantone (VS, AR) hatten noch immer keine Restwassersanierungen vorgenommen und acht Kantone (BE, FR, GR, NE, NW, TG, UR, VD) hatten weniger als 20 Prozent der sanierungsbedürftigen Gewässer saniert.

Energiedepartement zeigt wenig Interesse an der Verbreitung des brisanten Berichts

Im August 2011 forderte das BAFU die Kantone erneut auf, den Stand der Restwassersanierungen bekannt zu geben. Das ernüchternde Resultat dieser Analyse liegt seit dem 22. Februar 2012 vor und wurde inzwischen auf der Internetseite des BAFU gut versteckt online gestellt (siehe Link unten). Keine Pressemitteilung weist auf den brisanten Bericht hin, den fleissige und gewissenhafte BAFU-Mitarbeiter erstellt haben. Niemand im Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) von Bundesrätin Doris Leuthard hat offenbar ein Interesse an einer Verbreitung des Berichts.

Die Hälfte der Kantone hält auch die verlängerte Frist nicht ein

Laut BAFU-Bericht sind 20 Jahre nach Inkrafttreten des Gewässerschutzgesetzes und neun Monate vor Ablauf der verlängerten Frist von insgesamt 817 sanierungspflichtigen Gewässern 511 noch immer nicht restwassersaniert. Das sind 63 Prozent oder rund zwei Drittel. Die Hälfte aller Kantone gibt an, dass sie die Frist von Ende 2012 voraussichtlich nicht einhalten können. Dabei stechen die grossen Unterschiede zwischen den Kantonen ins Auge. In den Gebirgskantonen, welche vom Gesetz besonders betroffen sind, zeigt sich ein gravierender Vollzugsnotstand.

Sanierungsverfügung «praktisch von den Kraftwerkbetreibern diktiert»

Im Kanton Wallis hat die Stromwirtschaft von 199 sanierungspflichtigen Gewässern bis heute 192 noch nicht saniert. In den meisten Fällen herrscht Restwasser Null, zwanzig Jahre nach der Volksabstimmung. Im Kanton Graubünden sieht es nicht viel besser aus: Von 77 Gewässern warten noch immer 56 auf die Sanierung. Roland Seiler, der Zentralpräsident des Schweizerischen Fischerei-Verbandes (SFV) sprach an der letztjährigen SFV-Delegiertenversammlung von einem «skandalösem Trauerspiel». Besonders gross war sein Ärger über die Bündner Regierung, deren Sanierungsverfügung für das Misox «vollkommen ungenügend» und «praktisch von den Kraftwerkbetreibern diktiert worden» sei.

Selbst der Bund hat erst eines von fünf Kraftwerken saniert

Pikanterweise ist auch der Bund bei seinen eigenen Wasserkraftwerken im Verzug. Von fünf Wassernutzungen mit Bundesbeteiligung ist erst eine einzige restwassersaniert, nämlich jene am Spöl (GR) zwischen der Staumauer Punt dal Gall und dem Speicherkraftwerk Livigno-Ova Spin. Die Sanierung der Kraftwerke Emosson (VS), Rheinau (ZH/SH), Val di Lei (GR) und Wunderklingen (SH) ist erst geplant. Das federführende Bundesamt für Energie (BFE) geht zweckoptimistisch davon aus, «dass die Sanierungen mehrheitlich innerhalb der bundesrechtlichen Sanierungsfrist abgeschlossen werden können». Mehrheitlich heisst logischerweise nicht alle. Bund, Kantone und Stromwirtschaft haben mit vereinten Kräfte dafür gesorgt, dass der Vollzug des Gewässerschutzgesetzes zum Trauerspiel geworden ist.


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2 Meinungen

  • am 5.04.2012 um 10:05 Uhr
    Permalink

    Unsere so hochgelobte und im Grunde auch wertvolle direkte Demokratie entpuppt sich immer mehr als hohle Fassade. Wenn es den Interessenverbänden nicht gelingt, mit millionenschwerer Abstimmungspropaganda eine Initiative zu Fall zu bringen, so haben sie offenbar noch genug Mittel und Methoden, die Umsetzung zu verhindern.
    So geschehen bei der Alpeninitiative, und wie man sieht beim Gewässerschutz. Bei der Raumplanung das selbe Spiel – nach Ablehnung diverser Initiativen (Stadt-Land-Initiative, …)
    Zu einer wirklichen Demokratie ist noch ein langer Weg – da kommt auch noch die Parteienfinanzierung ins Spiel.

  • am 11.04.2012 um 12:31 Uhr
    Permalink

    wer kennt einen wirklich ehrlichen Politiker der sich für Gerechtigkeit einsetzt und nicht lügt?

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