Die Piusbruderschaft des hl. Marktes und die NZZ
Wer erinnert sich noch an die Maulhelden des Weissbuchs «Mut zum Aufbruch»? An de Pury, Ackermann, Maucher, Schmidheiny und Hauser, welche 1995 die Reduktion des Sozialstaates auf einen Nachtwächterstaat forderten und die staatlichen Unternehmen an Private verkaufen wollten, um die Steuern für die Reichen zu senken? Inzwischen hat sich zwar der Reichtum des Landes massiv von unten nach oben verschoben, aber die SBB, die Post, die Kantonalbanken und die Stromwerke sind immer noch mehrheitlich in öffentlicher Hand. Und auch der Sozialstaat wurde nicht geschleift.
Eine beachtliche Überproduktion an Publikationen
Darüber können sich leider nicht alle freuen. Zum Beispiel die neoliberale Avenir Suisse, diese Piusbruderschaft des heiligen Marktes, welche seit anderthalb Jahren vom ehemaligen NZZ-Wirtschaftschef Gerhard Schwarz geleitet wird, der den Markt mit einer beachtlichen Überproduktion an Publikationen überschwemmt, üppig quersubventioniert von Finanz und Industrie.
Unter dem Schwarz-Vorgänger Thomas Held hatte sich die Avenir Suisse vor allem auf die politischen Institutionen der Schweiz eingeschossen und eine «Verwesentlichung der direkten Demokratie und des Föderalismus» gefordert. Unter dem Direktor Schwarz rekurriert sie jetzt vermehrt auf die Weissbuch-Strategen. Beispielsweise mit dem Buch «Mehr Markt für den Service public», welches im Februar im NZZ-Verlag erschienen ist.
Die Schweiz lebt in der «schlechtesten aller Welten»
Weltfremde Sekten fallen öfters durch zwei Verhaltensweisen auf: Sie jammern über die Schlechtigkeit der Welt und sie predigen Wasser und trinken Wein. Das ist auch im neuen Buch der Avenir Suisse nicht anders. Gleich im Vorwort larmoyiert Schwarz über das «Zauberwort» Service public, das «in der wunderbaren Sprache Voltaires» geschrieben dazu missbraucht werde, um «Forderungen nach mehr Wettbewerb und nach der Privatisierung von Staatsbetrieben abzuwehren».
Weiter heisst es im Buch, der Liberalisierungsprozess sei wegen dem Service public «ins Stocken geraten», weil breite Bevölkerungsschichten der Liberalisierung von «Infrastrukturen kritisch gegenüber stehen». An der Buchvernissage verstieg sich der Buchautor und Avenir Suisse-Mitarbeiter Urs Meister gar zur Behauptung, die Schweiz lebe in der «schlechtesten aller Welten», weil hier nur die «halbe Marktöffnung» stattgefunden habe.
Sie erschleichen sich die «höhere gesellschaftliche Akzeptanz»
Die «Road-Map» des Buches ist zweistufig: In einem ersten Schritt wollen die Prediger des freien Marktes die «höhere gesellschaftliche Akzeptanz» damit erschleichen, indem vorerst «das öffentliche Eigentum an den Infrastrukturversorgern akzeptiert und bloss die Intensität des Wettbewerbs erhöht wird». Zum Beispiel mit der Reduktion der Bundessubventionen für die SBB oder der Abschaffung der landesweit gültigen, einheitlichen Posttarife.
Erstaunlicherweise propagieren die Buchautoren verursachergerechte Kosten und Tarife. Aus ökologischer Sicht ist dagegen nichts einzuwenden, im Gegenteil. Aber die Autoren predigen Wasser und trinken Wein. Solange es um die Erhöhung der SBB-Tarife geht, sind sie voll dabei. Aber wenn es die Erhöhung der Benzinpreise mittels Abgaben betrifft, wehren sie entsetzt ab.
Ein Müsterchen dieser einseitigen Gesinnungsmoral findet sich in einer weiteren Publikation der Avenir Suisse mit dem Titel «Steuerpolitische Baustellen», welche im Januar publik wurde. Darin signalisieren die Autoren zunächst grundsätzliche Zustimmung: «An sich sind Lenkungsabgaben sinnvoller als Gebote und Verbote». Aber leider lösen sie «selten eine sinnvolle Lenkungswirkung aus». Entweder sie sind zu hoch oder zu tief und schiessen deshalb «über das Ziel hinaus». Fazit dieser fidelen Prediger verursachergerechter Preise: «Zu hohe Energiesteuern verursachen Verzerrungen, die sich schliesslich negativ auf die Produktivität und die Löhne auswirken».
Achillesferse der Theoretiker des freien Marktes ist die Praxis
Nach der Erhöhung der «Intensität des Wettbewerbs» soll laut Avenir Suisse die zweite Phase gezündet werden, die «Privatisierung von Produktionsanlagen sowie die Privatisierung von staatlichen Unternehmen», also der Verkauf von SBB, Post und Wasserkraftwerken an Private. Ganz geheuer ist es den Autoren bei solch tollkühnen Turnübungen nicht.
Verdutzt über den eigenen Mut monieren sie, mit der Privatisierung würden häufig «Begriffe wie Gewinnmaximierung, Leistungsabbau und steigende Tarife in Verbindung gebracht». Solche Ängste seien jedoch nur dann begründet, «wenn nicht gleichzeitig ein effektiver Wettbewerb etabliert wird, bei dem die Anbieter um die Gunst der Kunden werben müssen».
Damit ist die Achillesferse der Theoretiker des freien Marktes freigelegt: Die Praxis. Exakt zu diesem Thema stand in der NZZ vom 20. März ein überaus lehrreicher Kommentar. Angesichts der neuen Privatisierungswelle in Grossbritannien schreibt der NZZ-Korrespondent Peter Rásonyi, dass die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und Infrastrukturbauten zwar «in der Theorie gut» funktioniere, in der Praxis jedoch sei «in kaum einem Land die Ernüchterung so gross».
Die erschreckende Bilanz der britischen Privatisierung
Laut Rásonyi haben im letzten Jahr verschiedene Gremien «erschreckende Bilanzen» über die Privatisierung öffentlicher Unternehmen gezogen. So bezeichnete der Finanzausschuss des Unterhauses die Projekte öffentlich-privater Partnerschaften zu einer Droge, von der das Land wegkommen müsse. Sie seien intransparent und teurer als staatliche Projekte. Während für den Staat Mehrkosten von 1,5 bis 2,2 Prozent anfielen, erzielten die privaten Partner Traumrenditen von 15 bis 30 Prozent.
Noch schlimmer sieht es bei den britischen Eisenbahnen aus, welche in den neunziger Jahren privatisiert wurden. Gegenüber anderen europäischen Bahnen ergaben sich laut NZZ «jährliche Mehrkosten gegenüber vergleichbaren europäischen Bahnen von 40 Prozent». Dafür müssen Steuerzahler und Reisende aufkommen. Auch die Kosten der privatisierten Wasserversorgung seien «seit den achtziger Jahren doppelt so stark gestiegen wie die Inflation».
Autoren laben sich am Servic public der Hochschulen
Diese Zahlen werden die Autoren des Buches wenig beeindrucken. Neben Schwarz und Meister sind das die Professoren Helmut Dietl (Zürich), René L. Frey (Basel) und Robert Leu (Bern), Silvio Borner (Basel) und der Unternehmer Giorgio Behr. Diese Piusbrüder des starken Glaubens an den Markt lassen sich nicht so schnell beirren. Sie laben sich lieber am Service public der Hochschulen und einzelne von ihnen betreiben daneben private Geschäfte. Beispielsweise Helmut Dietl, Professor für Services & Operations Management am Institut für Betriebswirtschaftslehre der Universität Zürich, welcher gleichzeitig Verwaltungsrat und Mitarbeiter des privaten Beratungsbüros «Swiss Economics» ist.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine