Europas Grenzen in Bewegung
Es gibt überall auf der Welt nur historische Grenzen. Wer von gerechten oder natürlichen Grenzen träumt, rennt einem Phantom hinterher. Unabhängig davon, ob man Sezessionsabsichten oder die Suche nach der «richtigen» Grenzziehung in einem bestimmten Fall als berechtigt beurteilt oder nicht: Sie verursachen fast immer schwere politische Turbulenzen, schaffen neue Minderheitenprobleme oder öffnen gar der Gewalt Tür und Tor. Ungelöste Grenzfragen, Sezessions- und Unabhängigkeitsbestrebungen gehören zu den potenziell brisantesten internationalen Konflikten. Und zwar auch in Europa, innerhalb und am Rande der Europäischen Union.
Schockwellen aus Schottland
Wie viel Sprengstoff diese Thematik gerade für die EU bereithält, zeigt das Beispiel Schottlands. Dort sollen im Jahr 2014 die Bürgerinnen und Bürger über die Unabhängigkeit abstimmen. Nachdem die Schottische Nationalpartei (SNP) letztes Jahr bei den Regionalwahlen die absolute Mehrheit errungen hat, liegt die Jahrhunderte alte Debatte wieder auf dem Tisch. Noch ist vieles unklar, von der Legalität einer solchen Volksabstimmung über die konkrete Fragestellung und die genauen Modalitäten des Referendums bis hin zur konkreten Ausgestaltung einer allfälligen Unabhängigkeit. Zwei Dinge sind aber schon jetzt klar: Die schottische Sezessionsfrage wird das Vereinigte Königreich noch arg durchschütteln und Schockwellen Richtung EU auslösen.
Sorgenfalten in Spanien
Erste Anzeichen eines leichten Erdbebens konnten vor wenigen Wochen bereits in Spanien registriert werden. Madrid fürchtet schon heute, dass die mögliche Abstimmung in Schottland Schule machen und den immer nachdrücklicher nach Unabhängigkeit strebenden Basken und Katalanen als Beispiel dienen könnte. Im Januar 2012 berichtete die britische Tageszeitung «The Independent» gar, die spanische Regierung habe gedroht, das Veto gegen die Aufnahme eines unabhängigen Schottlands in die EU einzulegen. Die Zeitung beleuchtet auch die unterschiedlichen Auffassungen in dieser Frage innerhalb Schottlands. Thomas Giegerich, Professor für internationales Recht an der Universität Edinburgh, erachtet es für Schottland als «diplomatisch schwierig», locker der EU beizutreten. Ein Sprecher der SNP dagegen bezeichnete es als «grotesk», Schottland, das schon fast 40 Jahre Teil der EU sei, aus der Union auszuschliessen. Schliesslich wäre ein unabhängiges Schottland «ein Folgestaat und kein Beitrittsstaat».
Heikle Fragen für die EU
Die Debatte zeigt: Da kann einiges auf die EU zukommen. Diese Entwicklung hat die renommierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin bereits im vergangenen November thematisiert (Link siehe unten). Die Autorinnen und Autoren einer Studie haben im Sinne eines Frühwarnsystems zehn denkbare politische Krisensituationen herausgearbeitet, die sie als besonders relevant beurteilen. Darunter sind Themen wie ein Ausfall von Öllieferungen aus Saudi-Arabien, der Bau von Atomkraftwerken im arabischen Raum, Klimapolitik, Krise der Eurozone, Risiko Nordkorea etc. Es fällt auf, dass sich unter den insgesamt zehn, auch globalen Szenarien drei allein mit europäischen Grenz- und Territorialkonflikten beschäftigen. Die Analysen der Stiftung Wissenschaft und Politik haben einiges Gewicht, denn die SWP ist mittlerweile die grösste aussen- und sicherheitspolitische Denkfabrik Europas und zählt zu den wichtigsten Beratungsgremien der deutschen Regierung.
Von Schottland, Spanien, Belgien …
Unter dem Titel «Die Rückkehr beweglicher Grenzen?» beschäftigt sich eines der Szenarien mit Sezessionen und Unabhängigkeitsbestrebungen in der Europäischen Union. Dabei werden nicht allein die Fälle Schottland und Spanien, sondern auch das Auseinanderbrechen Belgiens behandelt. Zum einen stellen sich komplexe Fragen, wie die EU und ihre Mitgliedstaaten Unabhängigkeitsprozesse innerhalb der Union begleiten und anerkennen sollen. Diese «innere Erweiterung» wäre eben sehr viel mehr als eine innerstaatliche Angelegenheit. Vor allem stellen sich «hochsensible Sekundäreffekte» in zahlreichen Mitgliedstaaten: «So würde das Prinzip der Unantastbarkeit des territorialen Status quo in der Union in Frage gestellt. Dort, wo gegenwärtig nur radikale Nationalisten Grenzverläufe anzweifeln, könnte dieses Thema plötzlich auch von moderaten, bislang allein auf Selbstverwaltung drängenden Kräften aufgegriffen werden.» Die SWP-Studie warnt zudem, dass «mit der Enttabuisierung der Grenzfrage neue bilaterale Verwerfungen programmiert wären. Dies gälte beispielsweise für das Verhältnis Ungarns zu einigen seiner Nachbarländer.»
… über den Westbalkan …
Ein zweites Szenario beschäftigt sich mit erneuten Grenzverschiebungen im Westbalkan. Ethnopolitische Konflikte spitzen sich dort wieder zu. Am ehesten ist gemäss der SWP-Studie «eine neue Grenzziehung im Dreieck zwischen Kosovo, Albanien und Westmakedonien zu erwarten.» Immerhin befürwortet eine grosse Mehrheit der Bevölkerung in diesem fast ausschliesslich von Albanern bewohnten Gebiet den Zusammenschluss ihrer Nation zu einem Staat. Eine solche Entwicklung ist kaum ohne massive Gewalt denkbar. Die EU, die sich in diesem Gebiet stark engagiert, wäre unweigerlich sehr stark betroffen.
… bis nach Zypern
Der dritte Problemkreis der SWP-Studie kreist um das geteilte Zypern. Die EU wird ab dem 1. Juli 2012 erfahren, wie unangenehm ungelöste Grenzkonflikte werden können. Ab diesem Zeitpunkt übernimmt Zypern den EU-Vorsitz. Zypern wurde 2004 faktisch als geteiltes Land in die EU aufgenommen, nachdem der griechisch-sprachige Teil kurz zuvor den Plan von Uno-Generalsekretär Annan zur Wiedervereinigung abgelehnt hatte, während ihn die türkischen Zyprer angenommen hatten. Die Zypern-Frage ist seit dieser Zeit auch einer der grossen Stolpersteine in den Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei. Schon letztes Jahr hat der türkische Ministerpräsident Erdogan damit gedroht, die Beziehungen zur EU einzufrieren, wenn Zypern den EU-Ratsvorsitz übernimmt. Es sind nicht mehr die EU und Zypern, welche die Türkei mit der ungelösten Zypern-Frage unter Druck setzen können, sondern eher umgekehrt. Denn die Türkei ist «heute nicht mehr der in der Region weitgehend isolierte, politisch instabile, wirtschaftlich chronisch schwache und deshalb einseitig auf Brüssel angewiesene Staat am Rand einer prosperierenden EU», schreiben die Verfasser der SWP-Studie.
Beachtliches Störpotenzial
Die Möglichkeit von Sezessionen innerhalb der Mitgliedstaaten der EU wie auch von neuen Grenzverschiebungen im westlichen Balkan sowie eine Zuspitzung der Konflikte um Zypern verfügen über ein erhebliches Störpotenzial. Und vor allem können diese Konflikte rascher eintreten als uns heute bewusst ist. «Ungeplante Situationen werden immer mehr zum Normalfall, gerade in der internationalen Politik – denn die Abläufe in der globalisierten Welt beschleunigen sich», halten die SWP-Autoren fest, und fordern, diesen Konstellationen besondere politische Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine