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Moderne Seeräuber aus Somalia © ss/CC

Somalia: Piraterie bringt Wirtschaftsboom

Jürg Müller-Muralt /  Für die Industrieländer ist die Piraterie eine Plage. Für Somalia bringt sie wirtschaftliche Entwicklung, sagt eine neue Studie.

Vor der Küste Somalias diktieren Seeräuber das Geschehen. Über die Hälfte aller Piratenangriffe weltweit ereignete sich im vergangenen Jahr in diesem Hochrisikogebiet, heisst es im Jahresbericht des Internationalen Seeschifffahrtsbüros (IMB). Freiwillig passiert keiner die Gefahrenzone am Horn von Afrika. Und doch gibt es jährlich für rund 28 000 Handelsschiffe keine andere Route: 36 Prozent der weltweit gehandelten Güter müssen das Operationsgebiet der somalischen Piraten durchqueren. Ein Kraut gegen die modernen Seeräuber scheint keines gewachsen. Weder die EU-Militäroperation Atalanta noch die US-Seestreitkräfte und Marineeinsätze weiterer Staaten werden der Piraterie Herr.

Höhere Risiken, brutalere Methoden

Im Gegenteil: Die Zahl der Angriffe ist im Jahr 2011 trotz der Anwesenheit von Kriegsschiffen aus rund 30 Staaten angestiegen. 237 Frachter wurden attackiert, bei 28 Schiffen waren die Piraten erfolgreich. Das Kapern von Frachtern ist zwar wegen der starken Flottenpräsenz schwieriger geworden, doch die Piraten gehen im Gegenzug höhere Risiken ein, greifen zu brutaleren Methoden und treiben die Lösegeldforderungen in die Höhe. Statt wie bisher vier Millionen Dollar, stieg die durchschnittliche Summe pro Schiff im vergangenen Jahr auf rund fünf Millionen. Gemäss einer Studie der amerikanischen Non-Profit-Organisation «One Earth Future» (siehe Link unten) kostet die Piraterie vor Somalia die Weltwirtschaft zwischen sieben und zwölf Milliarden Dollar jährlich. Kostentreiber sind unter anderem zusätzliches Sicherheitspersonal, längere Ausweichrouten und der Einsatz schnellerer Schiffe. Die Lage ist also ziemlich verzwickt, denn nebst militärischen und polizeilichen Massnahmen bringen auch juristische Mittel keine Lösung, wie ein Artikel zum ersten Prozess gegen mutmassliche Piraten in Hamburg in der «Wochenzeitung» (WoZ Nr. 6/2012, siehe Link unten) zeigt.

«Signifikant positiver Effekt»

Man kann die Sache natürlich auch einmal andersherum betrachten und sich fragen, wem das Seeräubergeschäft denn wirklich nützt. Das hat die renommierte britische Denkfabrik Chatham House getan und ist dabei zu bemerkenswerten Schlüssen gekommen. Die früher unter dem Namen Royal Institute of International Affairs bekannte Institution hält fest, dass die erpressten Lösegeldzahlungen und damit die Pirateneinkommen «einen weit verbreiteten und signifikant positiven Effekt auf die somalische Wirtschaft haben.» Die Datenlage ist naturgemäss in einem zerfallenen Staat wie Somalia dürftig bis inexistent; die Autorin Anja Shortland hat deshalb neben anderen Quellen auch Satellitenbilder und Nachtlicht-Fotos ausgewertet, um die Wirtschaftsströme zu verfolgen (siehe Link unten).

Für Anja Shortland ist klar: Die Piraterie hat Arbeitsplätze geschaffen und vor allem für die Wirtschaft des nordöstlichen somalischen Gebiets Puntland einen Multiplikatoreffekt ausgelöst. Dies vor allem deshalb, weil die Verteilung der Lösegelder traditionellen Clanmustern folgt und relativ breit gestreut wird. Durch diese «tief verwurzelte Kultur des Teilens» profitieren also nicht nur einige wenige Personen von der Piraterie. Im Gegenteil: Wohlhabende Somalier mehren ihr Sozialprestige durch grosszügige Unterstützungsbeiträge an ein weitverzweigtes Clan-Netz.

Personalintensives Geschäft

Den positiven Effekt auf den somalischen «Arbeitsmarkt» erklärt Shortland mit dem personalintensiven Geschäft der Piraterie: Rund 50 Piraten stehen für jedes gekaperte Schiff im Einsatz. Dazu kommen noch einmal 50 Personen, die mit Bewachungsaufgaben an der Küste betraut sind. Zudem wird jeweils ein Teil der Mannschaft eines gekaperten Schiffes an Land gebracht. Da es um ein «Geschäft» geht, nämlich um möglichst hohe Lösegeldsummen, werden die Geiseln in der Regel anständig behandelt. Um sie zu betreuen werden Köche beschäftigt, und auch Lebensmittelproduzenten und lokale Händler profitieren, was die lokale Wirtschaft zusätzlich stimuliert.

Allerdings sind es nicht die Küstengebiete, die am meisten Nutzen aus dem Geschäftsmodell der Piraterie ziehen, sondern die Provinzstädte Garowe und Bosasso. Die Autorin Anja Shortland schlägt deshalb vor, in erster Linie den enttäuschten Bewohnerinnen und Bewohnern der Küstengebiete attraktive Alternativen zur Seeräuberei zu bieten und vor allem sie für eine Verhandlungslösung für das Piratenproblem zu gewinnen.

Warnung vor militärischer Lösung

Shortland ist weit davon entfernt, die Piraterie zu rechtfertigen. Sie weist lediglich darauf hin, dass generell betrachtet die Seeräuberei der somalischen Wirtschaft einiges gebracht hat: In bescheidenem Umfang sind in einigen Bereichen die Löhne gestiegen, der Handel wurde angekurbelt, Lebensmittelpreise haben sich stabilisiert. Die Autorin warnt vor allem vor einer militärischen Lösung. Es gibt – auch in der EU – wieder vermehrt Planspiele, die Militäraktion Atalanta auf Operationen an Land auszuweiten. Dies würde «einem der ärmsten Staaten der Welt eine wichtige Einkommensquelle nehmen und die Armut vergrössern.» Shortland schlägt stattdessen vor, die erwähnten, aus der Piraterie entstehenden Kosten von bis zu zwölf Milliarden Dollar für die Entwicklung der somalischen Gemeinden auszugeben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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3 Meinungen

  • am 22.02.2012 um 14:10 Uhr
    Permalink

    zwei Einwände: Wenn das Photo somalische Seeräuber zeigt, bin ich Klaus Störtebecker. Das sind wohl Arbeitskollegen aus Indonesien.
    Zweitens: Das ist ein Studie, die sich gut verkaufen lässt, aber wenig Sinn ergibt. Man könnte auch untersuchen, dass nach dem Atomkrieg die Wirtschaftswachstumsraten rasant wachsen. Motto: Hauptsache geiler Aufhänger.

  • am 23.02.2012 um 13:37 Uhr
    Permalink

    Ob Raub, Mord, Vergewaltigung, Freiheitsberaubung und andere kriminelle Handlungen wegen «Arbeitsplätzen» oder wirtschaftlichen Vorteilen geduldet werden dürfen?
    Auch die Bekämpfung der Piraterie schafft Arbeit (bzw Kosten), auch wieder ein Grund diese zu tolerieren?
    Und die Ursachen der Armut und damit indirekt Ursache der Piraterie? Auch da wurde sehr viel Geld und Werte «gehandelt", die Wirtschaft wuchs, demnach war und ist dies zu begrüssen???

    Im Focus der Oekonomie ist «tun» immer gut, «sein» hingegen ist wertneutral…

  • am 24.02.2012 um 03:39 Uhr
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    Ja ich komme mit dem Argument der armen Fischer denen man die Lebensgrundlage geraubt hat, es waren internationale Fangflotten.
    Außerdem wurde und wird der afrikanische Kontinent stets vom Westen geplündert/ausgeplündert, da ist es nur gerecht wenn die sich was vom Reichtum retourholen.
    Auch das Militär ging/geht ja brutal gegen die Piraten vor, ohne Rücksicht auf Verluste.
    Dass dann die Gewaltspirale anläuft wohl klar.
    Man sollte die Leute wirklich wie empfohlen vor Ort unterstützen.
    Daß ist sogar den meisten westlichen Streitkräften bekannt.

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