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Sternstunde Philosophie: Katja Gentinetta im Gespräch mit Tomas Sedlacek © srf

Sternstunde: Die schweigsame Moderatorin

Robert Ruoff /  Katja Gentinetta hat den tschechischen Ökonomen Tomas Sedlacek zum Reden gebracht. Und dabei über lange Strecken geschwiegen.

Nach sieben Minuten habe ich auf die Uhr geschaut und mich gefragt, wann sie endlich zur Sache kommen in dieser Sternstunde, denn sie waren immer noch beim Vorspiel. «Die Erneuerung des Kapitalismus» war angesagt, mit dem Tschechen Tomas Sedlacek. Immerhin ein Grund, nicht hinauszugehen in die kalte aber strahlend schöne Winterlandschaft in dieser Zeit der offenkundigen Kapitalismus-Krise. Sedlacek war in der Sternstunde angekündigt als einer der «fünf hellsten Köpfe der Ökonomie» und sein Buch «Die Ökonomie von Gut und Böse» als internationaler Bestseller.

Gentinetta und Sedlacek haben geredet über «die düsteren Seiten der Globalisierung» und die unzureichenden mathematischen Methoden der Wirtschaftswissenschaft. Sie haben die Notwendigkeit der Reform des Kapitalismus gestreift: das Schlechte überwinden ohne dabei das Gute zu zerstören. Und ein Bekenntnis abgegeben: «Ich glaube an die Reformierbarkeit des Kapitalismus» (Sedlacek). Damit ist nicht viel anzufangen.

Menschlicher Kapitalismus

Und als Sedlacek den Prager Frühling und den Versuch, einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» zu schaffen, mit dem platten Satz abhakt: «Das hat nicht funktioniert», hat sich mein Interesse an dieser Sternstunde schon fast erledigt. Auch wenn Sedlacek erst neun Jahre später das Licht der Welt erblickt hat, müsste er wissen, dass 1968 das Projekt einer demokratischen, sozialistischen Selbstverwaltung nicht aus ökonomischen Gründen gescheitert ist, sondern von den Panzern des Warschauer Pakts zermalmt wurde.

Das wäre eine Zwischenfrage der Sternstunde-Moderatorin wert gewesen. Und ich ertappe mich beim Verdacht, dass wir hier wieder einem Stück Verehrungs-Journalismus beiwohnen, der alles für wichtig hält, was ein neuer Medienliebling von sich gibt.

Aber aus irgendeinem Grund bin ich dran geblieben. Vielleicht, weil Sedlacek in Erinnerung an Gorbatschow von einer kapitalistischen Perestroika gesprochen hat und von einem «menschlichen Kapitalismus» – ein Widerspruch in sich. Oder vielleicht wegen einer Moderatorin, die eine am Schweizer Fernsehen ganz ungewöhnliche Mischung aus entspanntem Selbstbewusstsein und Zurückhaltung an den Tag legt.

Fragen und Hören – Preis und Wert

Gentinetta treibt den Tschechen mit ihren sparsam gesetzten Fragen schrittweise voran. Mit der Frage zum Beispiel, ob er auch sein eigenes Denken und Handeln in Frage stellt, sein ökonomisches Tagewerk als Banker und seine Nachtgedanken als Historiker und Philosoph. «Ja, durchaus.»

Und dann fängt der Mann an zu reden über den Zynismus einer Wirtschaft, die von allem den Preis kennt aber nicht den Wert. Er spricht über Preis und Wert seines Bleistifts, über Schönheit, Liebe, Leidenschaft, das Leiden von Tieren, Menschen, die Schönheit unserer Städte und über Werte, für die wir keinen Preis kennen oder für die wir vielleicht keinen Preis haben (sollten).

Und die Moderatorin hört zu: über drei, vier Minuten, mit dem ganzen Paket Fragen, das sie vor sich auf dem Tisch liegen hat und das wir alle als Mittel zur Gesprächsverhinderung nur nur zu gut kennen, und das sie nicht benützt – und so entsteht unversehens ein Zusammenhang. Eine zunehmend packende anschauliche Vorlesung des jungen tschechischen Bankberaters und politischen Ökonomen, ein Privatissimum in der Öffentlichkeit des Fernsehens.

Die Weisheit der Alten

Gentinetta kennt Sedlaceks Potential, ganz offenkundig, aber sie bleibt aufmerksam, spontan, ist als Moderatorin Triggerin, Auslöserin – und gibt mir als Zuschauer der Sternstunde die Chance, dem Mann zu folgen, der mich zunehmend interessiert, weil sie ihm Zeit und Raum gibt, sich zusammenhängend auszubreiten.

Sedlacek spricht über die Tatsache, dass sich menschliche Beziehungen wie Liebe und Freundschaft nicht in mathematischen Formeln pressen lassen, wie es die heutige Wirtschaftswissenschaft tut. Er spricht über eine Wissenschaft, die für sich die Wahrheit in Anspruch nimmt und arrogant zurückblickt auf die Geschichte des Denkens.

Und Sedlacek spricht über die Weisheit der Alten: über den Konjunkturzyklus in der Bibel – die sieben fetten und die sieben mageren Jahre des ägyptischen Pharao. Über den Kapitalismus als manisch-depressive Wirtschaftsweise, geprägt von der Manie des gigantischen Wachstums, in dem wir mit brennender Energie eine Blase nach der anderen produzieren und wieder zum Platzen bringen. Über die Wachstums-Besessenheit, die wir der heutigen Wirtschaftsweise und ihrer sogenannten Wissenschaft austreiben müssen.

Wissenschaft als Ideologie

Haben wir, fragt Gentinetta, den Zugang zu den einfachen Regeln verloren, wie in einem Haushalt, der ständig Schulden macht und über seine Verhältnisse lebt? Sedlacek: «Wissenschaft ist eine Ideologie…vielleicht sogar eine Religion… sie erlaubt den Staaten, Schulden zu machen… aber das Wunderbare im deutschen Wort Schulden ist: Schulden, Schuld, bedeutet auch Sünde, wie übrigens auch im Griechischen und Aramäischen.»

Er spricht über die Erbsünde des übermässigen Konsums. Das Begehren, das die Menschen treibt, antreibt, um die Gier zu befriedigen, die nie zu stillen ist, weil wir von dem, was wir haben, immer noch mehr haben wollen und dazu das, was wir dann noch nicht haben. Unterworfen unter das Motto: «Wir verrichten Arbeiten, die wir hassen, damit wir Dinge kaufen können, die wir nicht brauchen.»

Das krankhafte Wachstum

Am Ende – und die schweigsame Moderatorin hört immer wieder zu – erklärt der Banker und Wirtschaftswissenschafter Sedlacek, wie wir in dieser Wirtschaftsweise mit der ständigen Gier nach mehr die Seele verlieren, zu Robotern werden, der expandierenden Produktion unterworfen, dem Geld nachjagen und den Dingen mit dem aufgedruckten Preis, und dabei die Werte aus den Augen verlieren.

Sedlacek propagiert die Rückkehr der Seele und der Werte in die Wirtschaftswissenschaft und in die Wirtschaftsweise – und ins Leben. Und stellt die vergessenen Fragen: Wollen wir eine gerechte Wirtschaft? Wollen wir vielleicht eine Wirtschaft, in der die Armen reicher werden? Oder wollen wir eine ständig wachsende Wirtschaft?

«Man muss sich sehr arm, klein und gedemütigt fühlen, wenn man ständig träumt, dass man reicher wird und immer weiter und weiter wächst. Hören wir auf damit und sagen: Es ist genug. Und wir sind jeden Tag im Garten Eden!»

Denn: «Wir haben, wie die alten Griechen, Wachstum gekauft und dafür Stabilität und Harmonie verkauft.» Bis hin zum Bankrott, wie nach dem antiken auch das heutige Griechenland zeigt. «Wir müssen aufhören mit dem obsessiven Wachstum.»

Rückkehr zur freien Entscheidung

An dieser Stelle erst lässt Gentinetta ihre Vergangenheit beim Wirtschafts-Think Tank Avenir Suisse kurz aufblitzen: «Sie würden also nicht für ein generelles ‚Nullwachstum’ plädieren?» – und provoziert damit das klärende Ende: Ein «Schwindel ist, dass wir wachsen müssen…wir vertauschen im Zeitalter der Freiheit ‚Wollen’ mit ‚Müssen’… anstatt zu sagen, ‚wir müssen wachsen’, was wie ein Befehl klingt, sollten wir sagen: ‚wir wollen reicher sein’ – und durch diese andere Formulierung merken wir plötzlich, dass wir nicht reicher sein müssen, sondern andere Dinge tun könnten als ständig zu wachsen… Wohlstand ist nicht die einzige Quelle für menschliches Glück. Wir haben ihn ausgereizt.»

Moderation als Anregung

Ich halte nicht alles für konsequent und radikal durchdacht in Sedlaceks Thesen. Und sein Traum von der Reformierbarkeit des Kapitalismus verlangt viel Optimismus. Aber die Einbettung seines wirtschaftlichen Denkens in unsere Kultur- und Religions- und Ideengeschichte ist reizvoll und wahrscheinlich sogar hilfreich. Sie fördert den Abbau von Denkhemmungen, und das ist eine Sternstunde wert.

Nicht zuletzt wegen der Sternstunde-Moderatorin. Sie verlässt kaum je die Fragehaltung, auch wenn sie sehr gut vorbereitet ist. Sie hat nicht den eitlen Drang, die eigenen Kenntnisse vor dem Publikum auszubreiten, der so manche Moderatoren antreibt (vor allem eine Eitelkeit der Männer?). Diese Moderatorin kann schweigend zuhören und damit den Gast zum Reden bringen. Sie gibt ihm die Chance, Zusammenhänge auszubreiten, und mir die Möglichkeit, der Anschaulichkeit seiner Bilder und der Logik seiner Gedanken zu folgen. Das ist klassisches Handwerk, schafft Raum für beide, Gast und Publikum. Eine Wohltat.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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Eine Meinung zu

  • am 6.02.2012 um 20:08 Uhr
    Permalink

    Endlich jemand der oder die dem Gast seine Ueberzeugung ausbreiten lässt. Seit Jahren vermisse ich diese Eigenschaft von Journalisten. Zuhören ist die grosse Kunst der Kommunikation. Gelernt habe ich vom Zuhören und nicht Sprechen. Noch ein Zitat eines Weisen: «Vieles was ich gesagt habe bereue ich, aber nichts was ich nicht gesagt habe."
    Gruss Ha.Keller

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