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Meist gut ausgebildete Leute aus der neuen Mittelklasse protestieren gegen Putin © Sergej

Was hinter der Revolte von „Putins Kindern“ steckt

Roman Berger /  Ein gespaltenes Land: Die Gewinner der fetten Putin-Jahre verlangen ein «Russland ohne Putin». Das Russland der Verlierer reagiert.

Zuerst verstanden und darüber offen gesprochen hat Putins Chefideologe, Wladislaw Surkow: «Wir müssen den Demonstrierenden für ihre Initiative dankbar sein. Sie protestieren, weil sie in Wirklichkeit der produktivste Teil unserer Gesellschaft sind und der Regierung aufzeigen, in welche Richtung Russland gehen muss.» Der Kreml-Polittechnologe hat den hohen Anteil von Jungen, Gebildeten und Gutverdienenden an der Massendemonstration vom 24. Dezember vor Augen: Gemäss einer Umfrage des Lewada- Zentrums hatten über 70 Prozent der Teilnehmer einen Hochschulabschluss und stufen sich als Gutverdienende ein. Viele sind Unternehmer von Klein – und Mittelbetrieben. 69 Prozent der Befragten nannten sich «Liberale» oder «Demokraten». 89 Prozent hatten von den Protestaktionen durch das Internet erfahren.
Für Surkow steht fest: Der Kreml muss das System so weit reformieren, dass dieses mittelständische Protestpotential sich darin wieder finden und die Machtelite den politischen Prozess weiter kontrollieren kann. Putins Chefideologe, dessen Aufgabe es war, den Druck der Oeffentlichkeit immer so zu kanalisieren, dass er nie zu einer Gefahr für Putin wurde, ist inzwischen auf den Posten eines stellvertretenden Ministerpräsidenten versetzt worden. Noch ist unklar, was diese Versetzung zu bedeuten hat.
«Putins Kinder» werden im übrigen Russland nicht verstanden
Gleb Pawlowski, ein anderer gewiefter Polittechnologe, der vom Putin-Berater zu einem Putin-Kritiker mutiert ist, nennt die Protestierenden «Putins- Kinder». Es sind Russen, die unter Putin erwachsen geworden sind, unter seiner Herrschaft ihre Werte und ihre politische Haltung ausgebildet haben. Pawlowski meint damit aber auch die neue städtische Mittelschicht , die sich daran gewöhnt hat, dank hohen Oel- und Gaseinnahmen «gut zu leben». Sie kann sich kaum noch an die harten 90er Jahre erinnern und hat sich bis vor kurzem loyal sowie unpolitisch verhalten. Bezeichnend für Pawlowski sind auch die Forderungen der Protestbewegung: «Sie verlangen saubere Wahlen, mehr Respekt, Schutz des Eigentums, eine offenere Gesellschaft. Sie sind Kinder von Putins S y s t e m und wollen keine A e n d e r u n g des Systems.» Ihr Protest ist ja nicht durch eine soziale oder wirtschaftliche Krise provoziert, sie stellen keine materiellen Forderungen. Im Gegenteil, es ist eine «Revolte der Satten». Pawlowski vermutet denn auch, dass «Putins Kinder» einen «Moskauer Dialekt» sprechen, der im übrigen Russland nicht verstanden wird.
Mehr Angst vor dem konservativen Protestpotential
Die Polit- Geographin Natalia Zubarevich erinnert, dass eine Mehrheit der Bevölkerung weiterhin in einem sowjetisch geprägten Russland isoliert und gefangen ist: In kleineren und mittleren Städten (20 000 bis 500 000), in sogenannten «Ein-Betriebsstädten» (Monogoroda) und im Russland der Peripherie (Kleinststädte, Dörfer) sowie im Fernen Osten und Kaliningrad, wo soziale und wirtschaftliche Forderungen zu politischer Mobilisierung führten, auf die der Kreml mit einer Kombination von Kooptation und Repression reagierte. Dieses Russland, das nur dank massiven staatlichen Subventionen überleben kann, würde von einer neuen Wirtschaftskrise am härtesten getroffen. Vor diesem konservativen Protestpotential hat Moskau mehr Angst als vor der protestierenden städtischen Mittelschicht. Deshalb braucht der Kreml einen ständig wachsenden Anteil des Budgets, dazu gehört auch die massive Aufstockung der Militärausgaben, um seine traditionelle Klientel zufrieden zu stellen.
Warum wählt jeder Vierte kommunistisch?
In der Berichterstattung über die Duma-Wahlen vom 4. Dezember wurde oft übersehen, dass die Kommunistische Partei von rund 13 auf 19 Prozent zugelegt hat. In Wirklichkeit dürften es 25 Prozent sein, wenn man die unterschlagenen Prozente dazuzählt. Warum wählt jeder vierte Wähler die KP, die eigentlich nach dem Untergang der Sowjetunion der Geschichte angehören sollte? Die KP ist die einzige organisierte Partei im Land und die einzige Opposition in der Duma. Viele haben aus Protest für die KP gestimmt, weil sie gegen Putin sind. Das könnte auch im März passieren, was Putin in einen zweiten Wahlgang zwingen würde.
Demokratische Opposition – losgelöst von der Gesellschaft
Die nichtkommunistische Opposition bleibt ein Fremdkörper. Sie schickt zwar ihre Anhänger auf die Strasse, existiert aber losgelöst von der übrigen Gesellschaft. In der demokratischen Opposition tummelt sich seit den 90er Jahren dasselbe Personal: Grigori Jawlinski, Gründer von Jabloko, der demokratischen «Apfel»-Partei und von 1993 bis 2008 ihr Vorsitzender. Andere Oppositionsführer sind diverse «Ex», von denen einige heute die Entscheidungen kritisieren, die sie einst selbst getroffen haben: Michail Kasjanow, Ex-Ministerpräsident. Boris Nemzow, Ex-Vizeministerpräsident. Wladimir Rischkow, Ex-Abgeordneter. Wladimir Milow, Ex-Energieminister. Garry Kasparow, Ex-Schachweltmeister.
Putin versucht, die Demonstrierenden als Marionetten zu verhöhnen. Sie würden in Wirklichkeit von einer vom Westen finanzierten kleinen Kaste manipuliert, die zu ihrem Vorteil Reformen fordere und Russland in der Welt in ein negatives Licht rücke.
Ein tief gespaltenes Russland
Die Risse in Putins System sind viel tiefer und gehen durch das ganze Land. Vadim Shteppa, spezialisiert auf Russlands Regionen, macht auf den Graben aufmerksam zwischen der nach Europa ausgerichteten neuen Mittelschicht und der «imperialen Tradition des übrigen Russlands, das gewohnt ist, unter einem guten Zar oder Generalsekretär zu leben». Shteppa erinnert an Parallelen vor 20 Jahren. Auch damals habe eine demokratische Bewegung gehofft, mit der Beseitigung des sowjetischen Einparteiensystems sei es getan, Russland werde in die «zivilisierte Welt» eintreten.
In Wirklichkeit habe im post-sowjetischen Russland eine «Synthese des Sowjetischen und Monarchischen» stattgefunden. Putin sei es gelungen, als Präsident mit den Vollmachten eines Zaren ausgestattet als ehrlicher Interessenvertreter des «kleinen Mannes» aufzutreten, mit der russischen Trikolore und der bolschewistischen Nationalhymne als Kulisse, assistiert von den Kirchenführern, welche die Rolle der Politkommissare der Sowjetzeit übernahmen.
Wie 1991 bestehe wiederum die Illusion, nach sauberen Wahlen könne Russland von einem ehrlichen Zaren gerettet werden. Russland müsse jedoch zuerst die «vertikale Ordnung» überwinden. Der Anstoss für ein neues Russland, so glaubt Shteppa, müsse von den Regionen kommen. Von einer föderalistischen Lösung ist Russland nach Jahrhunderten Zentralismus jedoch noch weit entfernt.

Nicht übersehen darf man, dass auch der Kreml viele Türme hat und kein homogenes Machtzentrum bildet. Konservative Hardliner stehen pragmatischen Technokraten gegenüber. Sie haben unterschiedliche Strategien. Alle haben die Machterhaltung als Ziel. Aber was ist der beste Weg dazu?
…die Schweizer Bankkonten retten
Auf ein mögliches Szenario aufmerksam macht Garry Kasparow: »Wenn die Machthaber im Kreml vor der Wahl stehen, an der Macht bleiben zu können oder mindestens einen Teil der Schweizer Bankkonten zu retten, dann sind 80 Prozent von ihnen für einen Deal bereit, um Letztere zu retten (Reuters 19.1. 2012). Kasparow muss es wissen, er hat sein Vermögen und seine Familie schon lange im Ausland in Sicherheit gebracht.
Putin selber hat Erfahrung mit solchen Deals. Im ersten Dekret, das er nach der Uebernahme des Präsidentenamtes unterschrieben hatte, wurde Boris Jelzin und seiner Familie Immunität auf Lebenszeit gewährt. Das war eine wichtige Bedingung, dass Putin als Kronprinz überhaupt akzeptiert wurde. Einen ähnlichen Deal schloss Putin mit den Oligarchen der 90er Jahre: Behaltet eure illegitimen Reichtümer, aber mischt euch nicht mehr in die Politik ein. Bestraft wurde Chodorkowski, weil er sich nicht an die Abmachung hielt.
Zweideutige Haltung des Westens
Die Demonstrationen sind ein deutliches Indiz dafür, dass Russlands Gesellschaft in Bewegung geraten ist. Putin versucht, den Geist wieder in die Flasche zurück zu zwingen. Für ein neues Russland wäre ein radikaler Umbau mit politischen und wirtschaftlichen Reformen notwendig, die unkalkulierbare Folgen mit neuen Verlierern und Gewinnern haben könnten. Vor diesem Risiko schreckt auch die mittelständische Protestbewegung zurück. Im Westen gehört es zwar zum guten Ton, die Opposition zu loben. Die USA und Westeuropa sind aber in der Energiegrossmacht Russland vor allem an stabilen Verhältnissen interessiert. Jetzt zeigt sich allerdings, dass diese Stabilität nur von einer Person, Putin, abhängig ist, die das Land in eine unstabile Stagnation geführt hat. Für wirklich stabile Verhältnisse wäre in Russland eine demokratisch abgestützte Veränderung notwendig.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine. Langjähriger Moskau-Korrespondent für den Tages-Anzeiger.

Zum Infosperber-Dossier:

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Der Umgang mit Putins Russland

Russland zwischen Europa, USA und China. Berechtigte Kritik und viele Vorurteile.

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