Die Suche nach der arabischen Demokratie
2011 war das Jahr des Aufbruchs. Volksaufstände haben die Despoten in Tunesien, Ägypten und Libyen zu Fall gebracht und so die jahrzehntelange politische Stagnation überwunden. Die Regimes in Syrien und im Jemen wanken. Und in fast allen anderen Staaten waren die Machthaber gezwungen, Konzessionen zu machen, weil sie fürchteten, auch sie könnte der Zorn ihrer Bevölkerungen treffen.
Der politische Umbruch in der Region wird im nächsten Jahr weitergehen, allerdings – abgesehen von Syrien – kaum mehr auf so spektakuläre Weise wie in den vergangenen zwölf Monaten. 2012 dürfte eher im Zeichen der schwierigen Suche nach einem Staatsmodell stehen, das liberal und demokratisch ist, zugleich aber arabisch-islamischen Vorstellungen gerecht wird.
Tunesien: Entwicklung der Arbeitslosigkeit entscheidend
Tunesien hat den Transformationsprozess seit dem Sturz von Zine al-Abidine Ben Ali in vorbildlicher Weise vorangetrieben. In einer freien und fairen Wahl wurde eine verfassunggebende Versammlung gewählt, die innert eines Jahres eine neue Verfassung vorlegen und Parlaments- und Präsidentschaftswahlen organisieren soll. Die Wahlsiegerin, die gemässigt islamistische Partei Al-Nahda, hat keine absolute Mehrheit und ist bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung auf die Unterstützung säkularer Parteien angewiesen, sodass kein radikales Grundgesetz befürchtet werden muss.
Sollte dieses aber zu «unislamisch» ausgestaltet sein, könnte eine Minderheit der Islamisten ihrer Partei den Rücken kehren. Al-Nahda dürfte allerdings auch aus ökonomischen Gründen von der Durchsetzung islamistischer Normen absehen, denn Tunesien ist dringend auf ausländische Direktinvestitionen und Tourismus angewiesen. Nur mit der Verringerung der hohen Arbeitslosigkeit wird das Land längerfristig stabil bleiben. Diesbezüglich wichtig wäre auch, dass das ölreiche Nachbarland Libyen rasch zur Ruhe käme, wo in der Vergangenheit viele Tunesier eine Anstellung gefunden haben.
Ägypten: Militär als Staat im Staat
Ägypten und Libyen haben ihre Machthaber zwar ebenfalls gestürzt, doch sind beide Länder – aus unterschiedlichen Gründen – nicht so weit wie Tunesien. Im Staat am Nil wurde lediglich das Personal an der Spitze ausgetauscht, die Machtstrukturen aber wurden nicht ausgehebelt. Die politische Macht und viel wirtschaftliche Potenz liegen nach wie vor bei der Armee, die eine Art Staat im Staat bildet. Ohne ihren Machtverzicht kann sich Ägypten nicht weiterentwickeln.
Ob die Militärs dazu bereit sind, wird sich nach den Parlamentswahlen zeigen, deren dritte Phase am 3. Januar beginnt. Allerdings wird das neue Parlament aller Voraussicht nach von islamistischen Parteien dominiert sein. Sollte die der Muslimbruderschaft nahestehende, gemässigt islamistische Partei für Freiheit und Gerechtigkeit dann entgegen ihrer Ankündigung doch mit der Partei Al-Nur der radikalen Salaisten eine Koalition eingehen, wäre das Risiko gross, dass bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung Menschen- und Bürgerrechte auf der Strecke blieben. Die gemässigten Islamisten dürften allerdings wie in Tunesien aus ökonomischen Gründen vor radikalen Experimenten zurückschrecken.
Libyen: Ohne stabile staatliche Strukturen
In Libyen wurde dagegen mit dem Regime von Muammar al-Gaddai gebrochen. Weil dessen diktatorisches System alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrang, ist dieser Bruch jedoch nicht nur positiv. Denn es fehlen vorerst stabilisierende staatliche Strukturen. Zudem ringen verschiedene Milizen, die im Bürgerkrieg gegen Gaddai kämpften, um Posten und Einluss im neuen Libyen und versuchen, sich einen Anteil an den Öleinnahmen zu sichern.
Solange diese Milizen ihre Waffen nicht abgegeben haben, besteht ein erhebliches Konliktpotenzial, das den Aufbau des Landes massiv behindern kann. Bis im Juni soll ein Nationalkongress gewählt werden, der eine Übergangsregierung bilden und eine neue Verfassung ausarbeiten muss. Sollte das Wahlresultat von allen wichtigen Akteuren anerkannt werden, besteht dennoch eine Chance, dass Libyen zu stabilen Verhältnissen findet. Dann könnte das Land von seiner im Vergleich zu den umliegenden Staaten guten Ausgangslage proitieren: grosse Ölvorkommen bei tiefer Bevölkerungszahl.
Syrien: Unstabilen Machtverhältnissen im Nahost ausgesetzt
Syrien und Jemen gemeinsam ist die akute Gefahr, ins Chaos abzustürzen. Ansonsten verbindet die beiden Länder nur wenig. Lange Jahre hatten sich grosse Teile der syrischen Bevölkerung mit dem eisernen Griff des Assad- Regimes abgefunden, weil es Stabilität und ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Religionsgruppen zu garantieren schien. Doch seit neun Monaten halten die Massenproteste gegen Präsident Baschar al-Assad an, obwohl die Sicherheitskräfte mit brutaler Gewalt gegen die Demonstranten vorgehen. Über 5000 Menschen sind dabei bisher ums Leben gekommen.
Die Zahl der Deserteure, die ihre Waffen nun gegen die Regierungstruppen richten, ist in den letzten Monaten stark gestiegen. Eine Verhandlungslösung des Konlikts scheint nicht mehr möglich. Es ist daher zu befürchten, dass das Blutvergiessen in einen Bürgerkrieg mündet. Ein militärisches Eingreifen der Nato wie in Libyen gilt als unwahrscheinlich. Denn ein Wandel in Syrien könnte die fragilen Machtverhältnisse im Nahost-Konlikt verändern. Fällt das Assad-Regime, verlieren der Iran, die Hisbollah im Libanon und die Hamas im Gazastreifen einen wichtigen Verbündeten – und Israel verliert einen berechenbaren Feind.
In Jemen droht grösseres Chaos
Die Entwicklung im wirtschaftlich darniederliegenden Jemen ist für die arabische Welt dagegen von geringer Bedeutung. Das Land leidet seit Jahren unter inneren Konlikten: Die Armee führt Krieg gegen die zur schiitischen Minderheit der Zaiditen gehörenden Huthi-Rebellen, unterdrückt Sezessionsbestrebungen im Süden und bekämpft den regionalen Ableger von Al- Qaida.
Die Staatsgewalt erstreckte sich noch nie über das ganze Territorium. Mit dem Machtkampf zwischen dem Lager des langjährigen Präsidenten Ali Abdullah Saleh und wichtigen Armeekommandanten, die sich auf die Seite der Opposition gestellt haben, droht der Rest staatlicher Ordnung vollends zusammenzubrechen.
Marokko, Jordanien, Oman: Monarchen bleiben anerkannt
Marokko, Jordanien und Oman wurden vom Arabischen Frühling weniger stark erfasst als die oben genannten Staaten. Grund dafür ist die von weiten Bevölkerungskreisen als legitim anerkannte Herrschaft der jeweiligen Monarchen und die humanere Regierungsführung.
Der marokkanische König Mohammed VI. bekam die Unzufriedenheit noch am stärksten zu spüren, was mit der im Vergleich zu Jordanien und Oman prekäreren sozialen Lage und der viel weiter entwickelten Zivilgesellschaft zu tun hat. Mohammed VI. hat dar auf mit einer Verfassungsreform und vorgezogenen Parlamentswahlen reagiert und so die Proteste vorerst eindämmen können. Hält seine Bereitschaft an, den Reformprozess gestaltend voranzutreiben, könnte Mohammed VI. seine Position als Staatsoberhaupt längerfristig sichern und damit Modellfunktion für andere arabische Monarchen haben. Ob er aber willens ist, wirkliche Macht abzutreten, ist alles andere als sicher. Der Reformdruck wird in Marokko mit Sicherheit anhalten.
Für König Abdullah II. von Jordanien und Sultan Qabus ibn Said in Oman könnte das kommende Jahr dagegen ruhiger werden als 2011.
Algerien, Saudi-Arabien, Bahrain: Die grossen Unbekannten
Algerien, Saudi-Arabien und Bahrain bleiben die grossen Unbekannten. In Bahrain, wo das sunnitische Königshaus die Proteste der schiitischen Bevölkerungsmehrheit im März brutal unterdrückte, bleibt die Lage wohl explosiv. Saudi- Arabien und Algerien scheinen dagegen stabil. Doch vor dem Arabischen Frühling glaubte man das von allen Staaten der Region. Dann aber löste die Verzweilungstat von Mohammed Bouazizi, der sich aus Protest gegen Behördenwillkür selbst anzündete, in Tunesien eine Revolution aus, die in die ganze arabische Welt ausstrahlte. Gut möglich, dass sich auch anderswo ein ähnliches Szenario abspielen wird. Vielleicht doch schon 2012.
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Dieser Artikel erschien am 31. Dezember 2011 im Landboten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Redaktor Philipp Hufschmid verfolgt seit langem die Entwicklung in der arabischen Welt. Der Artikel erschien am 1. Dezember in "Der Landbote / Zürcher Regionalzeitungen".