Tagesschau: Mit der Arroganz völliger Unwissenheit
Es ist schon eine ganze Weile her seit ich das Schweizer Fernsehen und noch länger, nämlich 22 Jahre, seit ich die «Tagesschau» verlassen habe. Genug zeitliche Distanz, denke ich, um auch öffentlich einen kritischen Blick auf das Programm zu werfen. Ich tue es nicht gerne. Aber es ist notwendig, nach der Hauptausgabe der «Tagesschau» vom Dienstagabend, 27. Dezember 2012.
Der Wunsch als Vater des Gedankens
Die Stirn gerunzelt habe ich schon beim Thema «Syrien» und dem Besuch der arabischen Beobachter. Da gab es in der Moderation den schönen Satz: «Und tatsächlich, es besteht Hoffnung. In Homs hat das Militär kurz vor Eintreffen der Delegation der Arabischen Liga Panzer abgezogen, die Menschen strömten auf die Strasse…» und so weiter.
Ob da nun wirklich so apodiktisch Hoffnung «besteht»…? Wer hofft? – Der kühle, professionelle Beobachter darf seine Zweifel anmelden. Warum sind Assads Truppen nicht schon längst in die Kasernen zurückgekehrt? Und was geschieht, wenn die «arabischen Beobachter» das Land wieder verlassen haben?
Aber sei’s drum. Ein Moderationstext, in Eile hingeschrieben, nicht ganz durchdacht in der täglichen Routine. Der Wunsch war vielleicht Vater des Gedankens. Der Filmbericht der «Tagesschau» folgte danach durchaus der Logik der Ereignisse. Und in «10 vor 10», kam das Thema ja dann von der asketisch disziplinierten Moderation bis zu den Filmberichten journalistisch präzise und differenziert daher.
Im Unterschied zur «Tagesschau» mit ihrer moderierten Filmnotiz über die 384 m lange Rolltreppe in Medellin, im Armenviertel «Comuna 13». Diesen Text muss ein unkontrollierter Volontär (oder eine Volontärin) geschrieben haben.
Mit der Arroganz völliger Unkenntnis
Der Tagesschau-Autor schreibt: «Es tönt zugegebenermassen ein bisschen bizarr. Ausgerechnet die Bewohner eines der gewalttätigsten Viertel in der kolumbianischen Drogenmetropole Medellin erhalten eine Rolltreppe – und das mitten im Quartier. Die Bewohner können so die steilen Strecken zu ihren Hütten oder Häusern ohne grosse Mühen zurücklegen. Die Stadtregierung verspricht sich von dieser ungewöhnlichen Massnahme eine Beruhigung, ja sogar eine Befriedung des schwierigen Viertels. Die Rolltreppen sind insgesamt 400 Meter lang und überwinden rund 100 Höhenmeter. Kostenpunkt: Knapp 5 Millionen Franken. – Woher dieses Geld kommt, das wissen entweder die Regierung oder die Drogenbarone.»
Das ist die Arroganz völliger Unkenntnis. Das ist die Verbreitung von Vorurteilen mit den Mitteln eines gebührenfinanzierten Senders.
«Bizarr» klingt das? – Aus der Sicht der reichen Schweiz, wo jede Stadt, die etwas auf sich hält, von Zürich über Luzern, Basel, Bern, Lausanne, Locarno jedes Städtchen, das auf sich hält, ein paar steile Höhenmeter mit einem Bähnchen oder einem Lift überwindet. Für die Bequemlichkeit der Bürger, Parlamentarier, Hotelgäste, Studenten.
Aber «ausgerechnet die Bewohner eines der gewalttätigsten Viertel in der Drogenmetropole Medellin»! Auch wenn, zugegebenermassen, die Hänge der Anden steil sind, die Menschen nach der Arbeit im Stadtzentrum vielleicht müde und die Luft auf 1500 m über Meer ein bisschen dünner als in Zürich. «Ausgerechnet»!
Medellin: eine Stadt realer Hoffnung
Der Schreiber – oder die Schreiberin – im abgeschotteten Tagesschau-Studio in der heilen Schweiz weiss offenkundig nicht, dass Medellin seit 2003 eine Stadt im Aufschwung ist. Ich konnte sie selber zweimal besuchen: 2005 und 2007. Ich habe Bilder mitgebracht (siehe Fotostrecke) und unvergessliche Erinnerungen.
Die Erinnerung an 2005, mit einer UNO-Delegation zu einem Strassenfussball-Turnier (Sport als Mittel des Friedens), mit einer Eskorte schwerbewaffneter Motorräder und dem Gefühl der Anspannung und Unsicherheit beim Besuch des Armenviertels. Und dem ausdrücklichen Verbot des Chefs, mich alleine durch die Stadt zu bewegen.
Die Erinnerung an den Bürgermeister der 3-Millionen-Metropole, Sergio Fajardo Valderrama, den parteilosen Mathematik-Professor und Ökonomen, der sich vorgenommen hatte, die Stadt in eine bessere Zukunft zu führen: nicht nur mit Polizei-Repression sondern vor allem mit dem Bau von Schulen und Bibliotheken und Sport- und Spielplätzen, der Förderung von Bildung und Arbeitsmöglichkeiten, der Öffnung von Pärken und Erholungsgebieten und der Verbesserung der Transportwege zwischen dem Stadtzentrum und den von Gewalt durchsetzten Armenvierteln an den steilen Hängen der Anden.
Die Erinnerung an die Reduktion der Mordrate um 80 Prozent, bereits im zweiten Amtsjahr des Alcalde Sergio Fajardo Valderrama.
Besuch in einer offenen Stadt
Und ich erinnere mich an meinen zweiten Besuch, im Rahmen einer internationalen Fernsehkonferenz, im Jahr 2007 (Fajardo war da schon nicht mehr Bürgermeister, weil das Gesetz keine zweite Amtszeit zulässt, aber er ist eben gerade für die Legislatur ab 2012 zum Gouverneur der Provinz Antioquia gewählt worden, deren Hauptstadt Medellin ist).
Ich erinnere mich, wie wir frei durch die Strassen gegangen sind und mit der Luftseilbahn hinaufgefahren nach Santo Domingo Savio. Es war die erste Bahn dieser Art; sie verbindet das ehemalige Herrschaftsgebiet der Drogenbarone und der Paramilitärs mit der S-Bahn im Tal und mit dem Stadtzentrum. Sie schafft nicht nur Anschluss an die Stadt. Sie hat die Bewohner befreit vom Würgegriff der Banden, die jeden und jede umgelegt haben, die es wagten, ihr eigenes Wohngebiet zu verlassen und fremdes Territorium zu betreten. – Mittlerweile gibt es ein halbes Dutzend dieser Luftseilbahnen (mindestens zum Teil Schweizer Fabrikate) – und die Rolltreppe in die «Comuna 13», ein anderes ehemaliges Herrschaftsgebiet der Paramilitärs, ist nichts anderes als ein solcher Anschluss an das städtische Verkehressystem – den «ÖV», wie man in Zürich sagt.
Ich erinnere mich an die neu gebauten Schulen mit ihren Sportplätzen, die offen und betreut waren während sieben Tagen/die Woche, und an das Mittagessen, das die Schülerinnen und Schüler aus dem Armenviertel auch am Samstag und Sonntag einnehmen konnten.
Signale des Aufbruchs
Ich erinnere mich an den «Parque Biblioteca España», dieses architektonische Manifest des Aufbruchs mitten im Armenviertel (siehe Fotostrecke), und an die Worte des damaligen Kommunikationschefs von Medellin: »Wir sind in Santo Domingo von Haus zu Haus gegangen und haben den Leuten gesagt: ‚Das ist für Euch!’».
Die Bibliothek ist offen bis zehn Uhr abends. Sie hat auf der Eingangsebene einen Kindergarten, in dem junge Lehrpersonen den Kids aus den Slums Geschichten erzählen. Und sie hat eine Treppe höher eine Computeretage, auf der sich die Jugendlichen drängen. Und selbstverständlich eine klassische Bibliothek. Und einen Theatersaal, der den Theatertruppen kostenlos zur Verfügung gestellt wird, wenn sie drei Vorstellungen für die Einwohner von Santo Domingo gratis spielen. Die Einwohner von Santo Domingo haben sie in Besitz genommen.
Ich erinnere mich an Kollegen, erfahrene Fernsehleute, die in brasilianischen Favelas oder in Mexico City oder Amsterdam arbeiten, denen die Tränen in die Augen geschossen sind, als sie das gesehen haben. Und ich erinnere mich an die Sätze des Kommunikationschefs: »Sie müssen nicht nur Repression einsetzen, sie müssen gleichzeitig den (jungen) Menschen eine Perspektive geben – allen, nicht nur den Problemfällen.» Und: «Sie müssen nicht dort ansetzen, wo sie die meisten Wähler haben, sondern dort, wo die Not am grössten ist.» Und: «Eine Stadt ist nicht sicher, wenn viel Polizei auf den Strassen ist, sondern wenn die Menschen sich frei auf den Strassen und Plätzen bewegen.»
Information: Zwei Mausklicks entfernt
Das muss der Texter oder die Texterin der «Tagesschau» nicht alles wissen. Aber ein paar Grundinformationen darf er/sie sich besorgen. Zum Beispiel, dass der Drogenbaron Pablo Escobar vor 18 Jahren erschossen wurde (1993) und dass die anderen Familien des Drogenkartells von Medellin, die Ochoa und Gacha und so fort, und ihre paramilitärischen Organisationen, in einem jahrelangen Krieg entmachtet wurden und werden. Und dass der letzte grosse Drogenbaron, Fabio Ochoa an die USA ausgeliefert wurde und dort seit 2003 dreissig Jahre Gefängnis absitzt. Und dass man seither von der Zerschlagung des Medellin-Kartells spricht. – Die Rolltreppe in die «Comuna 13» ist Teil dieses Kampfes um die Integration der Armenviertel in die Stadt und die endgültige Überwindung der Bandenherrschaft. In einer Stadt, die längst nicht mehr die grosse «Drogenmetropole» ist.
Nur zwei Mausklicks entfernt vom Sitzplatz in der Tagesschau könnte man erfahren, wenn man zum Beispiel «Medellin News» googelt, dass es in Medellin ein «Coming-out des öffentlichen Raumes» gibt (vom ORF), eben weil die Gewalt nach einer zwischenzeitlichen Zunahme wieder sinkt (von BILD, Deutschland – und es gibt sogar eine sehr knappe Notiz im Tagi-Newsnetz). Und dass die Stadt boomt, unter anderem mit einer wachsenden Anzahl Touristen aus den USA, die die Kunst (Bolero – siehe Fotostrecke) die vitale Stadt, die grünen Parks und das Nachtleben von Medellin geniessen.
Das Zauberwort «Transparencia»: Transparenz
Zur Finanzierung der Rolltreppe in der «Comuna 13» in Medellin stellt der Tagesschau-Volontär (oder die Volontärin) fest: «Woher dieses Geld kommt, das wissen entweder die Regierung oder die Drogenbarone.» – Das ist kühn in der Hauptnachrichtensendung eines Landes, das noch nicht einmal die Transparenz der Parteienfinanzierung kennt, oder der Eigentumsverhältnisse in den Medien. Man könnte auch sagen: Es ist arrogant. Oder zumindest unwissend. Oder beides.
Wer das Wörtchen «Medellin» googelt und dort auf die offizielle Website der Stadt geht, findet einen Menupunkt «Transparencia» – Transparenz. Und ein offizielles Dokument, das seit der Amtszeit des Bürgermeisters Sergio Fajardo die Leitlinien und die Massnahmen für eine transparente Verwaltung darlegt. Jedes Land und jede Stadt, die ein solches Dokument besitzt, kann stolz darauf sein.
Auch wir haben beim Besuch von 2007 gefragt, woher das Geld für die Biblioteca España kommt. Und die Antwort des Kommunikationschefs war: Konzentration der Mittel – was auf manchen Gebieten eine Einsparung von dreissig Prozent brachte. Und Kampf der Korruption: «Alle budgetrelevanten Verträge für die Vergabe von Aufträgen an private Firmen werden offen ins Netz gestellt. Jeder Bürger, jede Bürgerin kann sie einsehen.»
Und weiter: «Wir haben uns gesagt: Wir bauen diese Bibliothek (und die anderen Bibliotheken in den anderen Armenvierteln) auf jeden Fall. Wenn jemand sich als Sponsor engagieren will, werden wir das gerne akzeptieren.» Für die Biblioteca España hat König Juan Carlos von Spanien in die Sponsoring-Schatulle gegriffen, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht; darum heisst sie so.
Sicherung der journalistischen Qualität
Eine kurze Recherche im Internet mit ein paar Spanischkenntnissen hätte dieses oder ähnliche Ergebnisse gebracht. Und ein Stück Bescheidenheit gegenüber einem Land und einer Region und einer Stadt, die seit zwanzig Jahren zunehmend erfolgreich einen Mehrfrontenkrieg führen gegen eine kommunistische Guerilla und gegen Paramilitärs, die alle beide mit der Drogenmafia als Finanzierungsquelle verquickt sind. Und die von den USA als militärischer Stützpunkt in Mittel- und Südamerika betrachtet und behandelt werden.
Die Frage der Qualitätssicherung stellt sich. Keine/r kann alles und jedes wissen. Aber es kann gerade deshalb nicht folgenlos bleiben, wenn Redaktoren oder Redaktorinnen ohne Fachkompetenz und ohne fachkompetente Kontrolle sich mit einem Thema beschäftigen. Und wenn ein kurzes Filmchen mit ein paar dünnen Begleitinformationen die einzige Nachrichtenquelle bilden. Und man sich damit begnügt. Und statt geprüfter Information noch die eigenen Vorurteile drauf packt. In der «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens.
PS: Sergio Fajardo feiert am 1. Januar 2012 seinen Amtsantritt als Gouverneur der Provinz Antioquia. Er will eine grüne Region daraus machen. Ein guter Anlass, sich mit der Entwicklung in Kolumbien journalistisch zu beschäftigen.
PS 2: Der schöne Satz von der Hoffnung, die in Syrien angeblich «besteht», wurde keine 24 Stunden später von der Wirklichkeit überholt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Bis 2004 Mitarbeiter des Schweizer Fernsehens DRS.
Vielen Dank für diesen Beitrag. Endlich wurde von einem Kenner der Materie ausgedrückt, was im aufmerksamen Zuschauer seit längerem ungute Gefühle hervorruft. Gerade die Berichterstattung von SF DRS aus fernen Krisengebieten – aber auch zur inländischen Politik – scheint gelegentlich mehr durch Vorurteile geprägt, denn durch sorgfältige Recherche. Es gilt auch hier, die Berichte aus mehreren Quellen zu beziehen, dadurch werden die Aussagen unseres Staatsfernsehens meistens relativiert. Die Tagesschau des Schweizer Fernsehens war früher eine Autorität. Diese Zeiten sind vorbei.