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Demokratie und Rechtsstaat können sich auch widersprechen © cm

Auch Volksentscheide können Grundrechte verletzen

Christian Müller /  Direkte Demokratie versus Rechtsstaat: eine schwierige, aber notwendige Diskussion, die (noch) nicht ausreichend geführt wird.

Red. Die Frühlingsveranstaltung des Europa Forums Luzern 2012 unter dem Titel «Streitpunkt Zuwanderung» mit zahlreichen Referaten von schweizerischen und auch internationalen Kapazitäten zum Thema Migration hat einmal mehr gezeigt, wie schwierig das Thema Zuwanderung ist. Auf der einen Seite die wirtschaftlichen Interessen der Schweizer Firmen, auf der anderen Seite das dringende Erfordernis der Entwicklungshilfe und der Solidarität mit Menschen in Armut und politischer Bedrängnis. Und als Folge daraus: Ratlosigkeit und zunehmende Angst der Schweizer Bevölkerung vor Überfremdung und Übervölkerung unseres kleinen Landes, von politischer Seite absichtlich angeheizt und instrumentalisiert.

Die Gefahr von Volksinitiativen, die gegen internationales Recht und auch gegen die Menschenrechte verstossen, wächst. Doch wie damit umgehen?

Infosperber brachte einen Bericht zu einer Veranstaltung in Luzern, die sich genau diesem Thema widmete. Aus Anlass des Europa Forums Luzern Frühling 2012 stellen wir den mit zusätzlichen Links aktualisierten Bericht nochmals online.

Siehe speziell die Liste der problematischen Initiativen, unter dem Text zum Anklicken.

DIREKTE DEMOKRATIE: CHANCE UND RISIKO

Alle wissen es, zumindest alle Schweizerinnen und Schweizer: In der Schweiz kennen wir und leben wir auch ganz konkret die direkte Demokratie, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Und alle glauben auch dies zu wissen: Wir leben in einem Rechtsstaat. Gibt es – politisch – überhaupt eine bessere Situation: ein Rechtsstaat mit direkter Demokratie?

Mögliche Probleme – nennen wir sie hier einmal Widersprüche oder Unvereinbarkeiten – zwischen diesen zwei Grundwerten der Schweiz, Demokratie und Rechtsstaat, gab es gelegentlich schon vor Jahrzehnten. In den letzten Jahren aber beginnen sie sich zu häufen. Insbesondere seit die grossen Parteien Volksinitiativen vor allem aus parteipolitischen und wahltaktischen Gründen einsetzen – und sie tun das immer öfter – werden per Volksinitiative auch verfassungsrechtliche Bestimmungen anvisiert, die dem Rechtsstaat klar widersprechen. Auch völkerrechtliche Verträge der Schweiz mit einem oder mehreren andern Ländern gehören nämlich zum geltenden Recht. Insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist geltendes Recht und kann nicht einfach mit direktdemokratischen Abstimmungen unterlaufen, ausgehöhlt oder gar ausser Kraft gesetzt werden – es sei denn, die Schweiz würde die EMRK formell kündigen. Damit würde sie sich international allerdings noch mehr isolieren, als sie es ohnehin schon ist, und künftig im «trauten» Verbund mit Weissrussland und anderen de-facto-Diktaturen auf einer Stufe stehen.

foraus denkt voraus

Einmal mehr war es der Think Tank foraus, der sich zu diesem Thema Gedanken gemacht hat und nun seine Lösungsvorschläge in öffentlichen Veranstaltungen zur Diskussion stellt.

In Luzern waren es am 23. November 2011 der Direktor des Zentrums für Demokratie in Aarau, Prof. Dr. Andreas Auer, die Botschafterin Dr. iur. Rita Adam von der Direktion für Völkerrecht im EDA, und Lic. iur. Stefan Schlegel vom Think Tank foraus, die im besten Sinne des Wortes die argumentativen Klingen kreuzten. Gut 70 Interessierte waren gekommen, Studenten und junge Akademiker vor allem, aber auch ein paar politisch interessierte Pensionäre, um sich in dieser nicht ganz einfachen Thematik eine eigene Meinung bilden zu können.

Die «Vorausprüfung» als Vorschlag

Die Botschafterin hatte es am schwersten. Sie hatte den «offiziellen» Standpunkt des Bundesrates zu vertreten, der sich naturgemäss vor allem auch an der politischen Realisierbarkeit orientiert und deshalb von theoretischer Seite aus zahlreiche Angriffsflächen bietet: Volksinitiativen sollten künftig schon vor der Lancierung daraufhin geprüft werden, ob sie den Kerngehalt der Grundrechte verletzten, und dann mit einer entsprechenden «Warnung» auf den Unterschriften-Sammelbögen und Abstimmungspapieren versehen werden. Der Bundesrat glaube daran, so meinte die Botschafterin, dass die Stimmbürger solche Hinweise ernst nehmen würden.

Nicht so Stefan Schlegel vom Think Tank foraus, der den bundesrätlichen Vorschlag aus drei Überlegungen heraus ablehnt. 1. Der Begriff «Kerngehalt» sei viel zu wenig genau definiert, als dass er zur Überprüfung der Initiativen geeignet sei. Er sei zu wenig griffig und es wäre wohl keine der bisherigen problematischen Volksinitiativen daran gescheitert. 2. Die vorprüfende Behörde sei zu einer solchen Überprüfung mitnichten legitimiert. Und 3. Es müsse damit gerechnet werden, dass einzelne Parteien sich sogar rühmen könnten, internationales Recht nicht zu beachten – so im Sinne von «wir Schweizer lassen uns vom Ausland keine Vorschriften machen», wodurch die behördliche Warnung kontraproduktiv wäre und einer Empfehlung der Initiative gleichkäme. Schon bei der Minarett-Initiative hätten die Stimmbürger gewusst, dass dabei Völkerrecht geritzt werde. Statt für eine Vorausprüfung plädierte Stefan Schlegel denn auch klar für die Schaffung einer zusätzlichen Regelung, wonach im Konfliktsfall auf alle Fälle den Grundrechten die Priorität zu geben wäre.

Auch Prof. Auer mochte dem bundesrätlichen Vorschlag nicht zustimmen. Schlegels Einwände seien richtig. Es brauche in dieser Sache allerdings gar keine Reformen, man müsse nur die Verfassungsgerichtsbarkeit ausbauen und stärken, dann könnten und müssten im Bedarfsfall die Gerichte entscheiden.

Im Gegensatz zu Prof. Auer, so doppelte Stefan Schlegel nach, schlage foraus vor, dass die Gerichte eine explizite Anweisung erhalten sollten und dass daher eine neue Vortrittsregel in die Verfassung aufzunehmen sei, die besage: «Im Konflikt zwischen Grundrechten und anderem Recht geht im Einzelfall das Grundrecht vor.» Dies führe allerdings, musste Schlegel auf einen Einwand Auers hin konzedieren, zu einer Hierarchisierung der einzelnen Verfassungsbestimmungen.

Wann kommt die öffentliche Diskussion in Gang?

Aus naheliegenden Gründen ist die Problematik «direkte Demokratie versus Rechtsstaat» im Wahljahr von den Parteien nicht gross zur Diksussion gestellt worden, da damit keine Stimmen zu gewinnen waren. Spätestens aber nach den Bundesratswahlen kann dieser Thematik nicht mehr länger ausgewichen werden, da neu eingereichte Volksinitiativen erneut gegen den Rechtsstaat verstossen. Es ist zu hoffen, dass an weiteren Orten ähnliche öffentliche Diskussionen stattfinden werden, und wer weiss, vielleicht ist ja auch die eine oder andere grosse Zeitung dazu bereit, der Diskussion dieses Problems den notwendigen Platz zu gewähren. Die drei in Luzern aufgetretenen Referenten Adam, Schlegel und Auer auf alle Fälle wären Garanten für einen publikumsträchtigen Schlagabtausch.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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Eine Meinung zu

  • am 29.04.2012 um 20:12 Uhr
    Permalink

    Entweder haben wir Bürgerinnen und Bürger mittels Mitbestimmung etwas zu sagen (= Direkte Demokratie), oder wir wählen nur noch entsprechende «Experten", welche uns unsere ureigentliche Verantwortung abnehmen. Doch mit solchen Experten ist es gleich bestellt, wie mit jedwelchem Politiker jeglicher Couleur; «richtig» gilt das, was als mehrheitsfähig eingeschätzt wird – man will ja schliesslich (wieder) gewählt werden. Ausser dann, wenn dem Volk bereits zu viel versprochen wurde (und «dummerweise» die Versprechen auch noch eingehalten worden sind) und das Land als Folge davon vor/im Bankrott steht, dann lassen sich kaum mehr «Experten» finden, welche das Land aus der Misere herausführen wollen. Dafür können sich dann «Experten» anderer Länder umso mehr profitieren und rücken sich «völlig uneigennützig» ins Dauerrampenlicht. Aber nur so lange, bis sie von noch besseren Demagogen und Populisten im Namen des durch die Medien sowieso permanent getäuschten Volkes ersetzt werden…

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