Leichen pflastern ihre Seiten
Gestern wurde Muammar al-Gaddafi an unbekanntem Ort begraben. Man könnte auch sagen: Der libysche Übergangsrat hat ihn irgendwo in der Wüste verscharren lassen, nachdem er sich mit Gaddafis Familie und Stamm über Ort und Zeit von Bestattung und Grablegung nicht hat einigen können. Vielleicht ist das alles auch nur eine Irreführung der Öffentlichkeit, und der libysche Despot wurde in Wirklichkeit nach den rituellen Waschungen im weissen Gewand irgendwo im Meer versenkt. Wie Osama Bin Laden.
Gaddafi galt und gilt als gefährlich, noch über seinen Tod hinaus. So wurde er zuerst durch eine marodierende Soldateska erschossen, geduldet oder angeheuert von Kräften, die an seinem schnellen Tod sehr interessiert waren. Und so entgeht den boulevardisierenden Medien eine unendliche Fortsetzungsgeschichte, mit der sie den Voyeurismus ihrer Leserinnen und Leser so grausam schön befriedigen konnten.
Otto Hostettler hat Beispiele aus «20 Minuten», AZ und Blick zusammengestellt und die LeserInnen-Klicks, die darauf angesprungen sind. Mit dem ergänzenden Hinweis auf das geringe Interesse, das das Video-Interview mit Erich Gysling zur Lage in Libyen zum damaligen Zeitpunkt (21. Oktober) gefunden habe. Im Unterschied zu Gyslings Protest gegen die Ermordung von Gaddafi, den er auf Infosperber angemeldet. Hier hat Gyslings scharfe Kritik hohes Interesse und deutliche Reaktionen ausgelöst.
Die Zeit rast und das Interesse vergeht. Aber der Blick auf Otto Hostettler’s Blog lohnt sich: er schärft vielleicht das Bewusstsein.
OTTO HOSTETTLER’S BLOG
Gaddafis Leiche: Schweizer Medien kennen keine Grenzen
Die Reizfigur Gaddafi rechtfertigt Schweizer Medien zu buchstäblich grenzenloser Berichterstattung. Praktisch in Echtzeit schilderten die Online-Portale der grossen Verlagshäuser, wie der ehemalige Diktator gefangengenommen und vom Mob erschossen wird. Die Leser quittieren den Service mit hemmungslosem Voyeurismus – und vielen Clicks.
Aber: Wollen Leserinnen und Leser tatsächlich wissen, wie Gaddafi ums Leben kam? In allen Einzelheiten? Diese Fragen scheinen sich die Online-Medien nicht zu stellen. Die Handyfilme und Bilder haben sich innerhalb kürzester Zeit quer über die Welt verbreitet. Also werden sie auch in der Schweiz serviert.
20 Minuten beispielsweise bietet eine «Bilderstrecke im Grossformat», darunter der tote Gaddafi von allen Seiten, auf dem Schragen, im eigenen Blut liegend oder das Loch in der linken Schläfe per Nahaufnahme. Die AZ betitelt die Gaddafi-Fotos mit «Bildergalerie» und bietet eine ähnliche Auswahl.
Eine bestechende Version, wie man sich als Medium trotz diese Bilder und Videos selbst aus der Verantwortung nehmen kann, bietet der Blick. Er macht zum Thema, dass sich die Rebellen über die Leiche hermachen. Dazu der heuchlerische Titel: «Rebellen halten Handys drauf». Und: «Hier wird Gaddafis Tod dokumentiert». Dazu zahlreiche Bilder und Videos mit Gaddafis blutüberströmtem Oberkörper.
Die Online-Medien können zu ihrer Rechtfertigung sagen, die grausigen Bilder und respektlosen Amateurfilme würden bei der Leserschaft auf eine grosse Nachfrage stossen, deshalb biete man dieses Material an.
Tatsächlich, die Bilder und Filme von Gaddafis Tod bringen punkto Einschaltquoten einsame Spitzenwerte. Je grausiger, desto öfters angeklickt (Angaben Stand 21.10.2011; 16.30 Uhr):
Video «In diesem Loch hat sich Gadaffi versteckt»: 15 182 Aufrufe
Video: «Leiche von Gadaffi-Sohn Mutassim»: 26 442 Aufrufe
Video «Beim Versteck: hier packten sich die Rebellen Gaddafi»: 107 741 Aufrufe
Video «Die letzten Momente Gaddafis» (er wird gefangen genommen, ist aber noch nicht tot): 249 148 Aufrufe
Video «Töteten diese Schüsse Gaddafi»: 39 033 Aufrufe
Zum Vergleich: Das Video-Interview mit Erich Gysling zur Lage in Libyen haben nur gerademal 9 Personen angeschaut.
Ähnlich bei 20 Minuten:
Video « Feiernde Libyer nach Gaddafis Tod»: 4150 Aufrufe
Video «Aus der Nähe erschossen»: 34 489 Aufrufe
Zum Vergleich: Das Video «48 Zootiere erschossen» (Ohio, USA) bringt gerademal 2207 Clicks.
Irgendwann, in grauer Medienvorzeit, hatten sich Journalistinnen und Journalisten einmal selbst Regeln auferlegt. Dazu verfassten die Berufsverbände «Erklärung der Pflichten der Journalistinnen und Journalisten». Dort hiess es noch unter Punkt 8. (…) «Die Grenzen der Berichterstattung in Text, Bild und Ton über Kriege, terroristische Akte, Unglücksfälle und Katastrophen liegen dort, wo das Leid der Betroffenen und die Gefühle ihrer Angehörigen nicht respektiert werden.»
Die Jagd auf Clicks lässt solche Grundsätze vergessen. Leider.
Geschrieben von Otto Hostettler
21. Oktober 2011 um 22:32
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine