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Erich Gysling bei Interview in 10vor10 © srf

Mord als Mittel der Politik? – Ein Protest

Erich Gysling /  Wer hatte ein Interesse an Ghaddafis Tod? Wollen wir die Liquidation als Mittel der Politik anerkennen?

Er war kein Wohltäter – er war ein Willkürherrscher.
Er war zeitweise ein Terrorförderer – dann wieder ein Mitspieler in Bushs «Krieg gegen Terror».
Er erfand eine Staatsform, die «jamahariya», eine Volksdemokratie – traf aber alle wichtigen Entscheidungen im Alleingang.
Er förderte Libyens wirtschaftliche Entwicklung, half nach bei der Emanzipation der Frau.
Er spielte den Exzentriker – und verliebte sich so sehr in seine Rolle, dass er Fiktion und Realität nicht mehr klar unterscheiden konnte.
Er hasste und liebte den Westen, er liebte und hasste die Araber.
Er hatte jahrelang Sympathie für die Schweiz, dann (als Folge der Hannibal-Affäre) wollte er sie auflösen.
Er säte Gewalt und kam durch Gewalt ums Leben.
Ist dieses Ende zu rechtfertigen?

Nein und abermals Nein! Ghaddafi hätte es, wie irgend ein anderer Mensch, verdient, vor einem Gericht auszusagen. Wäre das in Libyen geschehen, hätten die neuen Machthaber ihn zum Tod verurteilt. Wäre er vor dem Strafgericht in Den Haag angetreten, hätte man ihn zu lebenslänglich verurteilt: Massakrierung von mehr als tausend Gefangenen bei einem Gefängnisprotest; willkürliche Hinrichtungen (einmal rund tausend pro Tag) usw. Hinzu gekommen wären Anklagen wegen der Geiselnahme der Schweizer Göldi und Hammami und die skandalösen Todesurteile gegen bulgarische Krankenschwestern.

Was hätte Ghaddafi vor Gericht aussagen können? Sehr viel. Er hätte, wenn es um die Bulgarinnen gegangen wäre, etwa darauf hinweisen können, dass der jetzt international so hoch respektierte Abd al-Jalil (Übergangsrat) die Todesurteile bestätigt hatte. Er hätte auf Avancen der westlichen Politiker Berlusconi, Sarkozy, Cameron, Blair, Bush, Condoleezza Rice etc verweisen können, auf deren Komplizenschaft mit seinem eigenen Regime. Peinlich wäre es geworden, für viele seiner jetzigen Gegner innerhalb Libyens wie auch für zahlreiche westliche Politiker und Politikerinnen.

Geht man fehl in der Annahme, dass sowohl die jetzt in Libyen Führenden als auch viele westliche Politiker Ghaddafi lieber tot als lebendig wollten? Dass die NATO ihre Angriffe in Libyen mehr und mehr (seit März 2011) nicht mehr zugunsten des Schutzes der Zivilbevölkerung tätigte (so war es ja in der UNO-Resolution festgeschrieben), als mit dem Ziel, Ghaddafi zu eliminieren?

Man kann die Verschiebung der Strategie ja durchaus damit rechtfertigen, dass man, international, keine Alternative zur Machtübergabe an den Übergangsrat Libyens erkannte. Dass man, bei der NATO und einzelnen Regierungen, die «Sache» so effizient wie möglich zu Ende bringen wollte. Die Angriffe kosteten Geld und absorbierten Kräfte. Die Wende in Libyen entsprach dem Zeitgeist innerhalb der «Arabellion». Was später daraus wird, ist allerdings offen und auch von vielen Zweifeln überschattet.

Das alles aber kann nicht die Ermordung des Diktators rechtfertigen. So wenig, wie man die Tötung von Osama bin Laden gutheissen kann. Auch er, der Drahtzieher des al-Qaida-Terrors, hätte vor Gericht gehen und nicht erschossen werden sollen. Gleiches gilt für die vielen Terrorverdächtigen in Pakistan, Afghanistan, Jemen etc, die durch US-Drohnenangriffe eliminiert werden. Und für die Palästinenser, die Israel mit seinen Raketen tötet.

Ja, solche Leute vor Gericht zu stellen, Prozesse gegen sie zu führen, kostet Zeit und Geld. Aber wenn man sich zum Liquidations-Schnellverfahren bekennt, wenn man Verdächtige einfach so «um die Ecke bringt», dann begibt man sich auf die gleiche Ebene wie die Verbrecher auf der Gegenseite. Das Recht wird ausgehebelt, Wildwest verherrlicht, der Unterschied zwischen Rechts- und Unrechtsstaat vernebelt.

Wollen wir das wirklich, ist das die letzte Weisheit unserer Zivilisation?

Erich Gysling


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4 Meinungen

  • am 23.10.2011 um 21:16 Uhr
    Permalink

    Sehr schön!
    Und warum kann ich hier nicht Flattrn?

  • PortraitM_Bertchinger
    am 24.10.2011 um 08:24 Uhr
    Permalink

    Ja, Demokratie erfordert mehr als Stimmung. Das hat der Westen vergessen. Die aufstrebenden Demokratien im arabischen Raum haben keine wirklichen Vorbilder mehr.

  • am 24.10.2011 um 12:05 Uhr
    Permalink

    Das Problem scheint mir kein moralisches und demokratisches. Da die Libyer bislang weder Demokratie noch Rechtsstaatlichkeit kennen, haben sie gar nicht die Mittel, ein rechtsstaatliches Verfahren gegen Ghadaffi und seine Leute durchzuführen. Da hätten ja wieder westliche Richter einfahren müssen, das heisst Fremde. Die Auslieferung an den internationalen Strafgerichtshof hätte ein Jahrzehnt-Verfahren nach sich gezogen, das dringende Demokratisierung nur verzögern könnte. Siehe Serbien. Ich denke, es gibt Verhältnisse, in denen idealdemokratische Forderungen zurückzustellen sind.

  • am 24.10.2011 um 13:59 Uhr
    Permalink

    Zunächst völlig einverstanden. Wobei ich den unterschied zwischen Terrorförderung und Bushs «Krieg gegen den Terror» nicht erkennen kann.
    ABER: Wie lässt es sich denn eigentlich rechtfertigen, dass die NATO die «kleinen» Befehlsempfänger der lybischen Armee direkt angegriffen hat, obwohl doch ohne die oberste Befehlsstruktur diese nie die Zivilbevölkerung angegriffen hätte? Wäre es, wenn schon, nicht angezeigt bei einem militärischen Eingreifen direkt die obersten Befehlsstrukturen anzugreifen? SO oder so ist es problematisch Menschen zu ermorden, ohne Gerichtsbeschluss, aber weshalb soll es korrekter sein hunderte einfache Soldaten zu ermorden, als den Befehlsgeber und seine unmittelbare Umgebung?

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