Piratenpartei: Die Stunde der Aussenseiter
Die Schweizer Piratenpartei tritt in sieben Kantonen zu den Nationalratswahlen in Bern an. Doch was fordern die Piraten? Und wie stehen ihre Chancen, den Überraschungscoup der Piratenpartei Berlin zu wiederholen? Ein Besuch beim letzten Piratenstammtisch vor der Wahl, gleich neben den Bahngeleisen in Winterthur, mag Aufschluss geben.
Es riecht nach Schweiss und Fett an diesem Abend, kurz vor Neun. Im Hinterzimmer des New Point Restaurants in Winterthur sitzen sie, zwölf Mitglieder der Piratenpartei Schweiz, an einem weiss gedeckten Tisch. Hier scheinen die Gesetze der Welt für einmal nicht zu greifen: Das Kebab-Imperium New Point verkauft hier alles, nur keinen Döner. Und die Piratenpartei kriegt weisse Tischdecken. Den ersten anwesenden Mitgliedern ist’s sichtlich unangenehm. Wenn die Piratenpartei eines nicht möchte, ist es, mit Oberflächlichkeiten zu punkten.
Sich selbst sehen die Piraten als «jugendliche Freiheitspartei». Ihr Interesse gilt den Herausforderungen der digitalen Welt. Das Parteiprogramm liest sich wie eine zufällige Aneinanderreihung von Forderungen: unzensiertes Internet, Kürzung der Urheberrechtsdauer auf 14 Jahre, Offenlegung der Parteifinanzierung. Zu den grossen Themen wie Migration und Bildung positionieren sich die Piraten nur zögerlich – und uneinheitlich. Im Gegensatz zu anderen, etablierteren Parteien machen die Piraten aus ihren innerparteilichen Auseinandersetzungen keinen Hehl. Kein PR-Berater bewahrt sie davor, die erbitterten Diskussionen im parteieigenen Internetforum zu verstecken.
Thomas Bruderer hat Angst. Angst vor der Möglichkeit, tatsächlich gewählt zu werden. Der 29-jährige Softwareentwickler aus Zürich startet auf Listenplatz zwei zu den Nationalratswahlen vom kommenden Sonntag. «Die industrielle Revolution hat zu den Arbeiterbewegungen geführt», sagt er. «Die digitale Revolution macht die Piratenpartei notwendig.» Aber woher hätte er auch wissen können, dass die Piratenpartei plötzlich zu den Gewinnern gehören könnte?
Zwar sitzt mit Marc Wäckerlin seit zwanzig Monaten ein Pirat im Grossen Gemeinderat der Stadt Winterthur. Doch sprach bis zu den Wahlen in Berlin vor einem Monat kein Mensch von der Piratenpartei. Dann: der Überraschungscoup. Ohne ausgereiftes Parteiprogramm schafften die deutschen Piraten sensationelle 8,9 Prozent. Und landeten mit 15 Vertretern im Landesparlament. Dass die Erfolgswelle in die Schweiz überschwappt, ist zumindest möglich geworden, meint auch der Zürcher Politologe Michael Hermann. «Das Resultat in Berlin hat auch der Schweizer Piratenpartei eine Art Legitimität verschafft», sagt er. Eine Stimme für die Piraten gelte nun nicht mehr automatisch als verschenkt. «Die Piratenpartei bleibt aber auch für mich eine einzige Wundertüte», sagt Hermann. Eine seriöse Prognose sei nicht möglich.
Nach kurzer Zeit von Bord
Hinten am Tisch ist der erste Laptop aufgestartet, das erste Kabel steckt dran, das erste iPhone am Kabel. Sara tippt eine SMS in ihr Handy. Die 22-Jährige ist eine der drei weiblichen Parteimitglieder am Stammtisch. Sie fällt auf, unter all den Männern in schwarzen Kleidern, haufenweise Brillen mit feinen Rändern im Gesicht, Wildwuchs, strubbelige Haare. «Klar, wir sind Nerds», sagt sie amüsiert. In Berlin liefen ja auch haufenweise Nerds rum, mit Hornbrillen und Hosenträgern, und die gälten dann als cool. Alles eine Frage der Definition. Die beiden anderen Frauen haben sich derweil in eine Ecke weitab vom Stammtisch zurückgezogen und plaudern. Beide sind sie die Freundinnen von Parteimitgliedern. Die eine hat sich zurechtgemacht, trägt kurze, platinblonde Haare und ein schwarzes, kurzes Hemdkleid. Die Paare haben sich in der Partei lieben gelernt. Die Piratenpartei: Ein Ort, an dem sich jene finden, die sonst nicht richtig passen.
In sieben Kantonen treten die Piraten, mittlerweile ein Verbund von 1500 Mitgliedern, zu den Nationalratswahlen an. Im Kanton Zürich, eventuell auch im Kanton Bern liege ein Sitz drin, sagt Politologe Hermann. Doch ein anhaltender Erfolg sei damit noch nicht garantiert. «Eine Partei, die sich so nennt, kann fast nicht nachhaltig sein. Piraten können ein Schiff entern, gehen aber nach kurzer Zeit wieder von Bord.»
Ein Parteimitglied steht nun mit einer kleinen Gruppe draussen. Eine Zigarette muss sein. In der Kälte schmiegt sie sich an ihren Freund, lacht laut. Der Blick auf ihren rechten Knöchel ist frei, ein Tattoo kontrastiert mit der Farbe ihrer Haut. Ein Lorbeerkranz. Das Symbol der Siegreichen. So zeigen sie sich, die Piraten, Individualisten, die versuchen, in der Technologie einen gemeinsamen Nenner zu finden.
»Nicht links, nicht rechts sondern vorn»
Von den 18 Kandidaten der Zürcher Piratenliste arbeiten elf in der IT-Branche. Früher haben sie die Grünen gewählt oder die SP, manche auch die FDP. Die grössten Berührungspunkte sehen die meisten bei den Grünliberalen. Doch auch einen abtrünnigen SVP-Politiker haben sie in ihre Kreise gelassen: Werner Klee kandidiert nun auf der Zürcher Liste für den Nationalrat. Die Piraten bleiben politisch schwer zu verorten. Im Kanton Zürich sind sie eine Listenverbindung mit den Konfessionslosen sowie der linken Alternativen Liste eingegangen, in Bern treten sie gemeinsam mit Jimy Hofer an, einem Stadtoriginal, das in vielen Fragen am rechten Rand poltert. Für Michael Gregr ist das kein Widerspruch. «Wir politisieren nicht links oder rechts, sondern vorn», sagt der Spitzenkandidat und Präsident der Zürcher Kantonalsektion. Gegessen hat Soziologe Gregr heute Abend nicht. «Im Wahlkampf muss ich ein bisschen auf meine Figur achten.»
Es ist kurz nach halb Elf. Die ersten Piraten ziehen von dannen. Knapp zwei Stunden sitzt der gelernte Maler Nik nun an diesem Tisch. Zum ersten Mal überhaupt hat er sich an einen politischen Stammtisch getraut. Seine Motorradjacke hängt über der Stuhllehne, der Helm liegt dicht daneben. Nik ist einer der wenigen, die Bier bestellt haben. Mit Rocklegende Gölä sei er in die Gewerbeschule, sagt der Mann über 40. Und gibt am Ende des Stammtischs zu: «Ich weiss noch immer nicht, welche Positionen diese Partei eigentlich vertritt.» Aber er hätte mit seinem Tischnachbar gesprochen. Und wisse nun: es passt. «Er hat mich menschlich überzeugt.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Anna Miller und ihr Ko-Autor Dennis Bühler sind Masterstudierende des Journalismuslehrganges am Medienausbildungszentrum in Luzern - MAZ.