Der Atomausstieg kommt – am St. Nimmerleinstag
In der Schweiz dürfen keine neuen Atomkraftwerke mehr bewillig werden. Das beschloss nach dem Bundes- und dem Nationalrat gestern auch der Ständerat. Zudem verlangen beide Parlamentskammern vom Bundesrat eine Energiestrategie, um den künftigen Schweizer Strombedarf ohne Atomenergie und «möglichst unabhängig vom Ausland» sicher zu stellen. Dazu soll die Förderung von erneuerbaren Energien und Energieeffizienz «zielführend verstärkt» werden.
Mit diesen Beschlüssen reagieren Regierung und Parlament bemerkenswert schnell auf die Atomkatastrophe, die sich vor einem halben Jahr im japanischen Fukushima ereignete. Eine Differenz zwischen den Parlamentskammern bleibt allerdings bestehen: Der Ständerat ergänzte die Motion, die das Bewilligungsverbot vorschreibt, mit folgendem Zusatz: «Damit wird kein Technologieverbot erlassen.»
Diese kryptische Ergänzung wurde in der Debatte unterschiedlich interpretiert: Die einen erkennen darin ein blosses Trostpflaster für die AKW-Befürworter. Andere wollen damit die staatliche Unterstützung der Nuklearforschung retten. Dritte kritisieren, es sei paradox, die nukleare Forschung und Technologie weiterhin zu fördern, deren Anwendung aber zu verbieten. Um den Kompromiss nicht zu gefährden, befürwortete der Ständerat die Motion trotz Kritik deutlich; lediglich acht Ratsmitglieder der FDP und SVP stimmten dagegen.
»Generationenentscheid» auf Zeit
Der Umweltverband WWF wertete den gestrigen Beschluss des Ständerats als «historischen Generationenentscheid». Wie lange dieser Entscheid Bestand hat, ist allerdings ungewiss. Denn die Motion mit dem AKW-Bewilligungsverbot, die der Ständerat gestern abänderte, braucht in der Wintersession auch noch die Zustimmung des neu gewählten Nationalrats. Zudem handelt es sich bei Motionen lediglich um Aufträge an die Regierung, gesetzgeberisch tätig zu werden. Die Gesetze kommen danach erneut vors Parlament. Und falls das fakultative Referendum ergriffen wird, entscheidet das Volk.
Doch kein Gesetz oder Verfassungsartikel ist ewig gültig. Das illustrierte CVP-Ständerat Filippo Lombardi mit folgender Aussage: «Auch wenn wir heute schreiben, dass wir für die Ewigkeit keine KKW mehr wollen, würde dies unsere Nachfolger nicht hindern, in zwanzig Jahren für den Ersatz von Gösgen und Leibstadt doch wieder KKW in Betracht zu ziehen.»
Keine Frist für alte AKW
Weniger deutlich als das Verbot von neuen ist der Abschied von den alten Schweizer Atomkraftwerken. Diese sollen gemäss bestehendem Kernenergiegesetz unbefristet so lange weiter laufen, so lange ihre Sicherheit gemäss Aufsichtsbehörde Ensi gewährleistet ist. Bundes- und Nationalrat lehnten nämlich alle Vorstösse ab, welche die Laufzeit der Atommeiler in Mühleberg, Beznau, Gösgen und Leibstadt begrenzen wollten.
Im Ständerat forderte die Basler SP-Frau Anita Fetz per Motion, die Laufzeit der bestehenden Atomkraftwerke sei auf 50 Jahre zu begrenzen. Doch kurz vor der gestrigen Abstimmung zog Anita Fetz ihren Vorstoss aus taktischen Überlegungen wieder zurück: Die Ablehnung der Motion sei absehbar gewesen, begründet sie auf Anfrage. Mit dem Rückzug habe sie verhindern wollen, dass ein ausdrückliches Nein des Ständerates als Vorwand genommen wird, um die Laufzeit der Altreaktoren weiter zu verlängern.
Trotzdem ist die Laufzeitbegrenzung noch nicht vom Tisch. Denn die Grünen sammeln zurzeit Unterschriften für eine Volksinitiative. Diese will die Lebensdauer der bestehenden AKW auf 45 Jahre limitieren. Wird sie angenommen, müsste die Schweiz ihr letztes Atomkraftwerk 2029 abschalten.
Verwässerung des Umstiegs
Damit sich die Schweiz langfristig mit Strom ohne Atom versorgen kann, setzen Bundes- und Nationalrat auf die Steigerung der Energieeffizienz sowie den Umstieg auf neue erneuerbare Energie. Doch diesen Umstieg hat der Ständerat gestern in verschiedenen Punkten gebremst: Ein Verbot von Elektroheizungen lehnte er ebenso ab wie die Abschaffung von Mengenrabatten bei den Stromtarifen. Auch die Forderung, die Plafonierung der kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV) aufzuheben, um Strom aus Wind- und Solarkraft stärker fördern zu können, stösst im Ständerat auf starken Widerstand. Die Entscheide über diese und weitere Forderungen hat er auf heute Donnerstag vertagt.
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keine