Kampf gegen die "rollenden Zeitbomben"
«Rollende Zeitbomben» nennt Jochen Dieckmann seine ehemaligen Berufskollegen und ihre 40-Tonnen-Lastwagen. Sie würden unter dem Druck ihrer Chefs täglich gegen alle möglichen Gesetze verstossen, die für den Strassentransport gelten. LKW-Fahrer litten ständig unter Übermüdung, Zeitdruck und Jobangst. Spediteure würden nicht selten an der Grenze zur Kriminalität, häufig darüber hinaus, agieren, schreibt Jochen Dieckmann in seinem Buch «Geschlafen wird am Monatsende». Dieckmann hat damit auch den Weg in viele TV- und Radio-Talkshows gefunden. Eine Welt, die dem Whistleblower der Truckerszene aber nicht unbekannt ist: Dieckmann arbeitete zwischen seinen Fernfahrer-Einsätzen als Pressesprecher und Journalist.
Manipulierte Fahrtenscheiber
Dies legt er im Buch auch offen dar. Ebenso wie den Hinweis, dass er seine erschreckenden Eindrücke zum grössten Teil in einem einzigen holländischen Familienbetrieb erlebte. Allerdings seien solche Zustände den meisten Truckern bekannt.
Das sind sie tatsächlich. Manipulierte Fahrtenschreiber, unsinnige Elefantenrennen und ungesicherte Ladungen – diese Vorwürfe werden seit Jahren immer wieder erhoben. Die angeschossene Branche spricht darauf von Einzelfällen, die Polizei von einer Sisyphusarbeit, und die Politiker fordern strengere Gesetze und Kontrollen.
Reine «Fuhrhalter» gibt es fast nicht mehr
Wer allerdings genauer hinschaut, erkennt, dass in der Transportbranche in den letzten Jahren eine grosse Entwicklung stattgefunden hat. Im Gegensatz zur immer gleichbleibenden Forderung der globalisierten Wirtschaft, Waren möglichst schnell und billig quer durch Europa zu karren, haben sich die Anforderungen an Spediteure und Chauffeure enorm verändert. Reine «Fuhrhalter» haben im heutigen, teilweise ruinösen Wettbewerb kaum noch eine Chance. Moderne Spediteure sind Logistikanbieter, die nur noch einen Teil mit dem effektiven Transport von A nach B erwirtschaften. Die Betriebe müssen diverse Zertifizierungen bestehen, um überhaupt noch Aufträge zu erhalten oder zu behalten. Wer sich diese Prüfungen nicht leisten oder ihre Anforderungen nicht vollumfänglich erfüllen kann, hat im Markt keine Chance mehr.
Sicherheitstechnik wurde stark verbessert
Auch die Technik wurde in den vergangenen Jahren auf Sicherheit und Ökologie getrimmt. Der Vorwurf der Dreckschleudern ist heute kaum mehr haltbar, vor allem nicht in der Schweiz. Transportunternehmer, die ihre Buchhaltung im Griff haben, setzen längst auf Fahrzeuge mit guten Abgaswerten und sparen so bei der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe LSVA. Nach den Euro-5-Motoren steht nun bereits die noch verbesserte Euro-Norm-6 bereit. Punkto Sicherheit sind in einem modernen Truck hochwirksame Bremssysteme Serie. Automatische Notbremsung bei zu nahem Auffahren, Spurassistent, Pneu- und Achsdruckmessinstrumente und viele weitere Security-Angebote kosten zwar extra, werden aber trotzdem von vielen Spediteuren eingebaut.
Der digitale Tachograph verhindert Betrug
Ein riesiger Fortschritt ist auch der gesetzlich vorgeschriebene digitale Tachograph. Diesen hat Buchautor Jochen Dieckmann herbeigesehnt, seine Aufzeichnungen passierten nämlich noch mit dem alten Tachographen, der weitaus leichter zu manipulieren ist. Denn der moderne Tachograph funktioniert ähnlich wie die Blackbox eines Flugzeugs. Zudem hat der Chauffeur eine persönliche «Kreditkarte», die sogenannte Fahrerkarte, auf der ebenfalls alles aufgezeichnet wird. Dies hat zur Folge, dass die Polizei im Gegensatz zu früher die Verstösse des Fahrers nicht mehr lange suchen muss – der Computer zeigt sie sofort und zweifelsfrei an. Hat der Chauffeur seine Ruhezeit auch nur um 3 Minuten nicht eingehalten, kann der Polizist dies bereits ahnden.
Oft kommen noch weitergehende Technologien zum Einsatz: Per Satellit kann der Disponent beispielsweise feststellen, wo Fahrer und Truck sich befinden und was gerade geschieht. Fahrer müssten sich darüber eigentlich freuen: Denn die nach Jochen Dieckmann erzwungenen krummen Touren der Disponenten werden so klar aufgedeckt. Doch viele Fahrer fühlen sich dadurch überwacht.
Eine weitere Veränderung des Gewerbes liegt darin, dass die Polizei ebenfalls aufgerüstet hat. Die Kontrollen wurden längst verstärkt, teilweise sind sie sogar automatisiert worden, wie beispielsweise im Kanton Uri.
Chauffeure müssen zur Weiterbildung
Trotz allen Bemühungen um mehr Sicherheit, der «weiche» Faktor Mensch bleibt. Hier setzen die Sicherheitsexperten auf Weiterbildung. Berufsfahrer müssen heute innert fünf Jahren 35 Stunden lang die Schulbank drücken. Sonst verlieren sie die Lizenz. Dabei kann es schon passieren, dass der Chauffeur das letzte bisschen Freude an seinem «Traumjob» verliert. Denn durch die geltende Gesetzesflut, die ihm als Update in diese Kursen vermittelt wird, kann er kaum mit gutem Gewissen noch von einer Ladestelle losfahren. Denn er verstösst schier unausweichlich gegen mindestens eine Vorschrift. Letztlich muss er auf seinen gesunden Menschverstand bauen.
Ruhezeit gilt auf die Minute
Ebenso geht es dem Polizisten, der den Chauffeur später kontrolliert. Möglicherweise fehlt an der Ladung eine Sicherungsgurte, die die physikalischen Fliehkräfte beim Überschlag des gesamten Fahrzeugs unterbinden sollte. Möglicherweise ist der Feuerlöscher um eine Woche abgelaufen. Möglicherweise hat der Chauffeur seine Ruhezeit oder seine Pause um 5 Minuten nicht eingehalten. Denn: Hat ein Fahrer nicht mindestens 9 Stunden sein Fahrzeug nicht bewegt (also keinen Meter!), ist die Ruhezeit komplett ungültig, auch wenn er 8 Stunden und 55 Minuten geschlafen hat. In Polizeiberichten kann dann schon mal stehen, dass ein Lastwagenfahrer kontrolliert worden sei, der seit 48 Stunden keine gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit eingelegt habe. Aus dieser juristisch zwar richtigen, sprachlich jedoch irreführenden Formulierung wird dann in der Zeitung leicht eine Meldung, dass ein LKW-Fahrer erwischt wurde, der zwei Tage lang durchgefahren sei.
Nach Hause fahren oder das Gesetz einhalten?
Es kann dem Fahrzeugführer auch passieren, dass er wenige Kilometer vor seinem Wohnort seinen Truck eigentlich parkieren und darin übernachten müsste – weil seine Lenkzeit ausgereizt ist. Wenn er nun trotzdem nach Hause fährt, riskiert er bei einer Kontrolle eine Anzeige.
Gerade Fernfahrer kämpfen teilweise Stunden ihrer Lenkzeit mit dem Problem der Parkplatzsuche. In Deutschland, aber auch in der Schweiz, ist es mittlerweile an manchen Tagen so voll auf den Autobahnraststätten, dass die Trucker auf dem Pannenstreifen nächtigen. Die Polizei muss hier oft beide Augen zudrücken, mangels Alternativen. Denn herumirrende Trucks in den Dörfern sind auch nicht erwünscht. Verbesserungen werden von den Behörden nur sehr langsam umgesetzt.
Menschenunwürdige Schlafplätze
Kommt dazu, dass gerade in der Schweiz das Pannenstreifen-Schlafen sogar Programm ist: Herrscht am Gotthard Phase rot, wird der Schwerverkehr auf der Autobahn gestoppt und zu stunden- oder gar tagelanger Warterei auf den Pannenstreifen verbannt. In diesen Stauräumen stehen zwar alle paar hundert Meter mobile Toiletten, aber keine Restaurants, keine Läden. Ebenso kann es den Truckern vor den Schweizer Grenzübergängen ergehen: Endlose Warterei unter menschenunwürdigen Bedingungen. Ähnlich wie an den EU-Aussengrenzen.
Dies alles widerspricht auch krass den Bemühungen der Polizei, sich ein Image als Partner, nicht als Kontrolleure, der Berufsfahrer aufzubauen. Diese Partnerschaft ist sowieso labil: Wegen all den technischen Raffinessen am Lastwagen, wegen all den Gesetzen und Vorschriften und wegen des «weichen» Faktors Mensch lassen sich bei fast jedem Transport Mängel finden.
Ausweisentzug ist ein Berufsverbot
Hier entsteht dann der von Buchautor Jochen Dieckmann eindrücklich geschilderte Psychostress. Grundsätzlich ist der Chauffeur nämlich für alles selbst verantwortlich. Zwar kann er seinen Chef, den Disponenten oder den Unternehmer in die polizeilichen und juristischen Ermittlungen einbeziehen, handelt sich damit unter Umständen noch grösseren Ärger ein. Ob er es tut oder nicht – das Schwert des Damokles kreist sowieso bereits über ihm. Denn es droht ihm der Entzug des Fahrausweises. Das kommt faktisch einem Berufsverbot gleich. Im Übrigen kann ihm dies auch in der Freizeit passieren: Muss er als Privatperson am Sonntag wegen zu schnellem Fahren mit dem Töff den Ausweis abgeben, darf er am Montag auch nicht mehr mit dem Lastwagen auf Tour. Was dann mit seinem Job passiert, entscheidet einzig und alleine der Arbeitgeber. Der Gesetzgeber hat damit nichts mehr zu tun.
Genau gleich kann es dem Fahrer bei zu nahem Aufschliessen und den Elefantenrennen ergehen. Solche Manöver können als grobfahrlässige Verkehrsverletzung ausgelegt und mit Busse und Einzug des Fahrausweises bestraft werden. Hier appelliert Buchautor Jochen Dieckmann an seine Ex-Kollegen. Dieser Unsinn sei zu unterlassen. Wenn der langsamere Fahrer kurz vom Gas geht, ist der Überholvorgang nämlich schnell abgeschlossen.
Schweiz ist beliebt bei EU-Chauffeuren
Ob Regional- oder Fernverkehr: Chauffeure haben einen immer aufreibenderen Job. Für Unternehmer ist es dehalb schwierig, gute Fahrer zu finden. Da in der Schweiz im Verhältnis zur EU noch anständige Gehälter bezahlt werden, sind Schweizer Transportunternehmer bei Ausländern nach wie vor beliebt. Nicht nur im Güter- sondern auch im Busverkehr.
Jochen Dieckmann hat die Strasse ganz verlassen. Er schreibt, dass er froh und dankbar darüber sei: «Es ist schwierig, den Spagat zu lösen zwischen dem, was der Chef vom Fahrer verlangt, und dem, was der Gesetzgeber, die allgemeine Verkehrssicherheit und der gesunde Menschenverstand von ihm verlangen.» Er habe den Ausstieg geschafft und sei dank der Hilfe einer Arbeitsagentur «resozialisiert» worden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Philipp Probst ist neben seiner Tätigkeit als Autor auch als Chauffeur tätig.