Das Humanitäre Völkerrecht hat blinde Flecken
Die Wahrheit ist bekanntlich das erste Opfer des Krieges. Deshalb wissen wir auch nicht, wie viele unbeteiligte Zivilisten beim laufenden internationalen Militäreinsatz in Libyen sterben. Seit dem Nato-Luftkrieg gegen Serbien im Jahr 1999 etwa und dem bald zehnjährigen Krieg in Afghanistan ist allgemein bekannt, dass auch Militärmissionen mit humanitärer Zielsetzung schwere «Kollateralschäden» verursachen. Wenn allerdings im Namen einer besseren Zukunft hunderte, tausende oder gar zehntausende von Zivilpersonen ums Leben kommen, dann hat auch eine international legitimierte militärische Intervention ein Problem.
Experte hebt Mahnfinger
Nun hebt der deutsche Völkerrechtler Gerd Hankel den Mahnfinger: «Internationale Einsätze mit humanitärem Anspruch entfernen sich zunehmend von ihrem eigentlichen Ziel. Immer drängender werden die Fragen nach Sinn und Zweck laufender Interventionsmissionen, vor allem, weil die Zahl der getöteten Zivilisten steigt.» Hankel ist Experte auf dem Gebiet, untersucht seit 2002 die juristische Aufarbeitung des Genozids in Ruanda und hat kürzlich ein Buch mit dem Titel «Das Tötungsverbot im Krieg» veröffentlicht. Es beschäftigt sich mit der Frage, ob das Humanitäre Völkerrecht und die Genfer Konventionen – also jenes Recht, das den Kriegführenden rechtliche Schranken setzt – den heutigen Herausforderungen noch gerecht werden.
Uno in neuer Rolle
Diese Herausforderungen haben sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Der grosse, klassische, zwischenstaatliche Krieg wird immer seltener. Umso zahlreicher sind dagegen interne Konflikte, Aufstände, Revolten, Revolutionen, Bürgerkriege, Terroranschläge, Vertreibungen, ethnische Säuberungen oder gar Völkermord geworden. Kriege sind immer weniger Auseinandersetzungen «auf Augenhöhe» zwischen einigermassen vergleichbar gerüsteten Gegnern, sondern asymmetrische Konflikte zwischen völlig ungleichen Kontrahenten. Dies wiederum drängt die internationale Gemeinschaft, die Vereinten Nationen und Militärbündnisse wie die Nato in die Rolle des Weltpolizisten.
Das oberste Ziel der Uno ist denn auch die Wahrung des Weltfriedens. Die Charta der Vereinten Nationen enthält in Artikel 2 ein allgemeines Kriegsverbot: Die zwischenstaatliche «Androhung oder Anwendung von Gewalt» ist untersagt. Das Humanitäre Völkerrecht (Haager Abkommen und Genfer Konventionen), also der weitestmögliche Schutz von Menschen bei militärischen Konflikten, wurde ausgebaut, der Wert des menschlichen Lebens als Schranke kriegerischen Handelns erhöht.
Libyen-Intervention als Testfall
Mit der neuen Uno-Doktrin der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) wurde 2005 ein weiterer historischer Schritt getan: Der Schutz vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit soll Verpflichtung für alle Staaten sein. Wenn ein einzelner Staat diese Verpflichtung nicht einhalten will oder kann, liegt es in der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, diesen Schutz durchzusetzen. Fast alle Staaten haben diesen Grundsatz anerkannt und in der Resolution 1674 des Uno-Sicherheitsrates erstmals in einem völkerrechtlich verbindlichen Dokument erwähnt. Diese neue Doktrin findet in Libyen ihre erste Anwendung (siehe «Infosperber»-Beitrag vom 29. März 2011: «Vom Recht der Staaten zum Recht der Menschen»). Während die Nato betont, nur militärische Ziele anzugreifen, spricht die libysche Führung von hohen Opferzahlen auch unter der Zivilbevölkerung.
Heikles Prinzip der Schutzverantwortung
Das Prinzip der Schutzverantwortung birgt zwei Hauptprobleme: Es schwächt einerseits das in der Uno-Charta verankerte Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten; deshalb muss eine Militärintervention ausnahmslos durch den Uno-Sicherheitsrat beschlossen werden, was im Fall Libyens auch geschehen ist. Anderseits kommt der Beachtung des Humanitären Völkerrechts grössere Bedeutung zu: Die Intervention muss mit grösster Zurückhaltung durchgeführt werden, um Unbeteiligte nicht zu gefährden. Ein schwieriges Unterfangen, gerade auch in oft verworrenen internen Konflikten.
Bei diesem Punkt hakt der Völkerrechtler Gerd Hankel ein. Er ortet das Problem nicht allein in der unberechenbaren Eigendynamik jeder militärischen Aktion, und es ist auch nicht «die vielleicht politisch-opportunistische Anwendung einer Norm, die dem Anspruch des humanitären Völkerrechts zuwider zu viel Gewalt erlaubt.» Hankel sieht in erster Linie zu wenig klare juristische Schranken: «Denn das Recht ist für aktuelle Herausforderungen zu fragmentarisch und erlaubt ein Mass an militärischer Gewalt, das nicht der Konfliktbegrenzung dient.»
Paradebeispiel Afghanistan
Als Paradebeispiel dient Hankel die Bombardierung zweier von den Taliban in Afghanistan gekaperte Tanklastzüge im September 2009. Der deutsche Oberst Georg Klein hatte die US-Bomber angefordert und – trotz Bedenken der Piloten – auf einen sofortigen Bombenabwurf gedrungen. Rund einhundert Menschen kamen ums Leben, viele von ihnen keine Taliban, sondern unbeteiligte Menschen. Das in Deutschland eingeleitete Verfahren gegen Klein wurde später eingestellt. Grund: Klein habe nicht gegen eine Norm des Völkerstrafrechst verstossen.
Mangelnder rechtlicher Schutz
Für Hankel ist klar: Die juristische Folgenlosigkeit des Falls Klein und ähnlich gelagerter Fälle habe gezeigt, «dass nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip der Schutz der Zivilbevölkerung schwächer sein kann als die Durchsetzung militärischer Ziele.» Selbst die Genfer Konventionen gingen davon aus, dass der Krieg führbar bleiben müsse, «wozu notfalls auch das Töten von Zivilisten gehört.» Und die Autoren des Responsibility-to-Protect-Konzepts «mögen noch so sehr die Notwendigkeit von dem humanitären Ziel angemessenen ‚höheren Standards‘ betonen, auch diese Standards bleiben im Rahmen des existierenden Rechts und verhindern nicht die Eskalation des Konflikts.»
Gerd Hankel fordert deshalb die Schaffung spezieller rechtlicher Normen, die den Besonderheiten des militärischen Einsatzes zu humanitären Zwecken Rechnung tragen. Im Vordergrund steht für ihn eine Ergänzung zu den bestehenden Zusatzprotokollen der Genfer Konventionen oder sogar ein neues Protokoll, «das wie die Zusatzprotokolle einen speziellen Regelungsgehalt hätte, sich folglich speziell auf die bewaffneten humanitären Konflikte bezöge.»
Das Ziel ist Deeskalation
Zwei Vorschläge Hankels sind von besonderem Interesse. So sollen bei internationalen, von der Uno mandatierten Militärmissionen, die humanitäre Ziele verfolgen, «die Mitglieder der bewaffneten Einheiten aller am Konflikt beteiligten Parteien als Kombattanten gelten. Im Falle ihrer Gefangennahme werden sie als Kriegsgefangene behandelt.» Natürlich ist Hanke nicht blauäugig und weiss, dass es schwierig sein kann, die Grenze zwischen heimtückischem, terroristischem und noch rechtskonformem Kriegshandeln zu ziehen. «Den Taliban-Kämpfern einen Kombattanten-Status zuzubilligen, bedeutet auch, im Grundsatz von einem rechtmässigen Kriegshandeln bei ihnen auszugehen.» Es sei nicht sinnvoll, grundsätzlich alle ihre Aktionen pauschal als «terroristisch» zu bezeichnen. Hankel zählt auf die deeskalierende Wirkung einer allfälligen neuen Regelung.
Mit Bezug auf den Schutz der unbeteiligten Zivilbevölkerung schlägt er als Formulierung vor: «Das Humanitätsgebot geniesst Vorrang vor der militärischen Notwendigkeit.» Danach wäre es beispielweise nicht mehr möglich, menschliche Schutzschilde zu beschiessen, weil dadurch meist mehr Unbeteiligte als Kämpfer getötet würden. Auch hier heisst das Zauberwort Deeskalation. Denn der Gedanke der Selbstbeschränkung sei den handelnden Akteuren des Kriegsrechts nicht fremd und biete ihnen häufig auch Vorteile.
Die Schweiz ist gefordert
Rechtliche Schranken der Kriegsführung sind immer zuerst auf Widerstand von verschiedenen Seiten gestossen. «Bald jedoch machte die ablehnende Reaktion einer zunehmend grösser werdenden Akzeptanz Platz; der Gedanke an eine strafrechtliche Grenze auch im Krieg war in der Welt und daraus nicht mehr zu entfernen. Warum sollte das bei einer rechtlichen Differenzierung, die eine neuer Entwicklung berücksichtigen will, anders sein?»
Mag sein, dass Gerd Hankel häufig etwas gar optimistisch ist. Sein Buch ist jedoch eine Fundgrube kluger Argumente. Und der Schweiz als Depositarstaat der Genfer Konventionen stünde es gut an, die eine oder andere Idee daraus aufzugreifen und in die Mühlen der Diplomatie einzuspeisen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine