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Kassen zahlen in Deutschland für Sortis einen Sechstel © WeisserStier/Flickr

Protest wegen überrissener Medikamentenpreise

Red. /  Für ein Medikament müssen Schweizer Kassen jährlich 128 Millionen mehr zahlen als die deutschen. Das führt zu heftigen Reaktionen.

Zu keinem anderen Bericht gab es am Montag so viele Kommentare von Leserinnen und Lesern wie zum Artikel «So werden Schweizer Prämienzahler geschröpft», der im «Tages-Anzeiger» und im «Bund» erschienen ist. 220 Meinungen dazu hat das Newsnetz online bis am Abend veröffentlicht.
Schweizer Kassen müssen fast sechsmal so viel zahlen
Zuerst kurz die Fakten: Müssten die Schweizer Krankenkassen für die verschiedenen Packungen des umsatzstarken Cholesterinsenkers Sortis nur so viel zahlen wie die deutschen Kassen, könnten sie allein mit diesem Medikament 128 Millionen Franken im Jahr sparen. Das hat der Fachspezialist des Preisüberwachers, Josef Hunkeler, ausgerechnet. Für die meistverkaufte Packung Sortis, die hundert Tabletten à 20 Milligramm Wirkstoff enthält, müssen die Schweizer Kassen sogar sechseinhalb mal so viel zahlen, nämlich 212.20 statt 32.50 Franken.
Gleiche Wirkung, gleicher Nutzen, nur viel teurer
Den hohen Preis von Sortis im Vergleich zu andern Cholesterinsenkern rechtfertigt Herstellerin Pfizer damit, dass Sortis für die Patienten therapeutische Vorteile habe. Doch der Deutsche Gemeinsame Bundesausschuss, in dem Ärzteschaft, Spitäler und Krankenkassen vertreten sind, kam zum Schluss, dass Sortis keinen grösseren Nutzen bringt als andere Cholesterinsenker. Einen Rekurs von Pfizer beim Sozialgericht hatte keinen Erfolg: Es gebe «keine Studien in der gebotenen Qualität», um irgendeinen Vorteil von Sortis zu belegen, urteilten die Richter im Februar. Seither vergüten deutsche Kassen nur noch einen Sechstel des Preises, den Schweizer Kassen zahlen müssen.
Pharma hat das letzte Wort
Eigentlich sollte dies auch Folgen für die Schweiz haben. Denn gemäss Krankenversicherungsgesetz müssen Medikamente «wirtschaftlich» sein, um von den Kassen bezahlt zu werden. Das Bundesgericht hat die Wirtschaftlichkeit definiert: Unter mehreren zweckmässigen Behandlungsalternativen sei «bei vergleichbarem medizinischem Nutzen die kostengünstigste Variante» zu zahlen.
BAG setzt sich über Bundesgericht hinweg
Doch das BAG, das die Kassenpreise bestimmt, setzt sich über diese höchstrichterlichen Urteile hinweg und macht keinen Nutzenvergleich zwischen günstigen und teuren Cholesterinsenkern: «Selbst wenn das BAG Sortis als gleich wirksam beurteilen würde wie Simvastatin und andere, so bedeutet dies nicht einen gleichen Preis», erklärt BAG-Sprecherin Mona Neidhart. Originalpräparate dürften teurer sein, selbst wenn sie nicht besser sind als Nachahmerprodukte. So sähen es Verordnungen und die «übliche Praxis» des BAG vor.
Die Bundesgerichtsurteile seien für das BAG irrelevant, weil sie jeweils Einzelfälle betroffen hätten, argumentiert das BAG. Allerdings: Das Bundesgericht prüft die korrekte Anwendung der Gesetze meistens an Hand von Einzelfällen.
Gegen die Rechtsauslegung des BAG können sich die Krankenkassen nicht wehren, denn weder sie noch Konsumentenorganisationen dürfen Entscheide des BAG auf Basis der Verordnungen anfechten.
Ein Beschwerderecht hat der Gesetzgeber ausschliesslich den Pharmafirmen vorbehalten.
Pharma-Lobbyist geht auf die Person los
Kaum waren diese Fakten am Montag online im Newsnetz zu lesen, gingen Dutzende von Meinungen ein, welche das BAG, das Departement des Innern, die Pharmafirmen und die «gekauften» Politker kritisierten. «Man weiss doch, dass wir keine Volksvertreter haben, sondern Interessenvertreter», schrieb zum Beispiel ein Peter Berger. Ein anderer Schreiber wies auf die zusammen über 20 Milliarden Franken hin, welche Novartis und Roche allein im 2010 als Gewinn ausgewiesen hätten.
Das wollte ein Pharma-Lobbyist nicht auf sich sitzen lassen. Walter Hölzle, Präsident des «grössten Schweizer Pharmaverbands» VIPS, dessen Mitglieder nach eigenen Angaben 70 Prozent des Pharmamarkts abdecken, stellte ebenfalls einen Kommentar ins Newsnetz – allerdings ohne seine Interessenbindung offen zu legen. Offensichtlich mangels sachlichen Argumenten ging er auf die Person los: «Einmal mehr eine verzerrte Darstellung von Herrn Urs P. Gasche».
Walter Hölzle trifft ins Leere
Dann warf er Gasche als einziges vor, «verheimlicht» zu haben, dass «alle höheren Dosierungen von Sortis in Deutschland viel teurer sind als in der Schweiz», weil Pfizer in der Schweiz für alle Dosierungen einen einheitlichen Preis verlange. Tiefe Dosierungen seien deshalb teurer, dafür aber die viel gebrauchten höheren Dosierungen «viel billiger».
Wie alle Pharmafirmen so redet auch Hölzle von den gelisteten Fabrikpreisen und nicht von den Preisen, welche die Krankenkassen zahlen müssen. Die Fabrikpreise von Sortis sind in der Schweiz tatsächlich sogar tiefer als in Deutschland. Deshalb behaupten Pharmafirmen, das BAG und oft auch die Krankenkassen, dass die Medikamentenpreise in der Schweiz kaum höher seien als im vergleichbaren Ausland. Doch für die Prämienzahler ist dieser Vergleich näher bei der Fiktion als bei der Realität.
Denn in fast allen Vergleichsländern sind die offiziellen Fabrikabgabepreise für die Endpreise oder Kassenpreise ebenso irrelevant wie etwa die Listenpreise von Sony. In Deutschland zum Beispiel können die Pharmafirmen kein einziges Medikament zum Listenpreis verkaufen, weil der Staat einen generellen Rabatt von 15 Prozent vorschreibt. Das BAG blieb die Antwort auf die Frage schuldig, weshalb es diesen Rabatt bei den Preisvergleichen nicht berücksichtigt.
Doch was für die deutschen Prämienzahler noch wichtiger ist als dieser Rabatt: Die deutschen Kassen können die meisten Preise in Verhandlungen mit den Pharmafirmen weiter nach unten drücken. Den Schweizer Kassen ist dies verboten. Aus diesen Gründen taugen Vergleiche der offiziellen Fabrikpreise wenig, um die Medikamentenkosten der Schweizer Kassen mit denjenigen des Auslands zu vergleichen.
Bei den Kassenpreisen hat Gasche in seinem Artikel keineswegs «verschwiegen», dass man für einen korrekten Kostenvergleich sämtliche Packungen und Dosierungen von Sortis vergleichen muss. Genau dies hat der Spezialist des Preisüberwachers getan und beim Preisvergleich sämtliche Packungen und Dosierungen nach ihren Umsätzen gewichtet. Resultat: Schweizer Kassen zahlen für Sortis fast sechsmal mehr als die deutschen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Verfasser des Artikels «So werden Schweizeer Prämienzahler geschröpft», den der «Tages-Anzeiger» und der «Bund» veröffentlicht haben, Urs P. Gasche, ist freier Publizist und Redaktor bei Infosperber. Als Vertreter der Patienten und Konsumenten ist er auch Mitglied der Eidgenössischen Arzneimittelkommission.

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