GurtenManifest

Das Gurten-Manifest © home

Justizministerin Sommaruga war Putschistin

Olivia Kühni /  Vor genau zehn Jahren versuchten vier Verschwörer auf dem Gurten, die Schweizer Sozialdemokratie zu retten. Vergebens.

Wolf Linder, emeritierter Professor der Politologie, ist an diesem Frühlingstag zurückgekommen an den Ort, der sein Leben als Sozialdemokrat für immer veränderte. Die Standseilbahn zieht ihn auf den Gurten. Linder blickt hinaus in die Bäume. «Wir haben einen ziemlichen Aufruhr gestiftet damals», sagt er. Dann hält das Bähnchen.
Vor den Türen der Bergstation wartet Henri Huber, pensionierter Gemeindepräsident von Köniz und ehemaliger Mitverschwörer. Huber hat den Weg von seinem Haus am Hang zu Fuss genommen. Jetzt steht er hier mit seinem Hund an der Leine und strahlt. Die beiden Männer umarmen sich lange. Nebeneinander gehen sie hinüber ins Restaurant. Huber hinkt ein wenig.
Schattenseiten der Zuwanderung waren tabu
Es ist der 7. Juni 2000, als der Putschversuch vom Gurten seinen Anfang nimmt. Huber, seit 13 Jahren Gemeindepräsident von Köniz, macht sich wie jeden Mittwoch nach der Gemeinderatssitzung zu Fuss auf nach Hause. An seiner Seite geht wie so oft Simonetta Sommaruga, seit zwei Jahren eine Amtskollegin und nur wenige Häuser von Huber entfernt daheim. Während sie vom Stadthaus zum Dorfrand gehen und dort in den Feldweg biegen, unterhalten sich Huber und Sommaruga über ihre Parteikollegen. Wie diese sich weigerten, über die Schattenseiten der Zuwanderung zu sprechen und über die hohen Preise, die mangelnder Wettbewerb mit sich bringen kann. Wie sie stattdessen oft eilten, wenn die Gewerkschaften nach Unterstützung riefen. Und wie sie ausserdem eloquente Strategiepapiere schreiben würden, die keine Menschenseele liest.
Zwei Partner von ausserhalb der Tagespolitik
Als sie in ihrem Quartier ankommen, haben die beiden beschlossen zu handeln. Sie wollen der SP in einem Traktat einen neuen Weg skizzieren. Bevor sie in ihre Häuser gehen, vereinbaren Huber und Sommaruga, dass jeder noch einen Gesprächspartner dazuholt, der ihnen, den Alltagspolitikern, den Horizont öffne.
Am nächsten Tag ruft Gemeindepräsident Huber den Politologen Linder an. Huber kennt Linder. Jeder in Bundesbern kennt Linder. Der damals 57-Jährige leitet das Institut an der Universität, seine Reden im Hörsaal sind scharfzüngig und unverblümt, die eidgenössischen Departemente engagieren ihn regelmäßig als Berater. Linder sagt zu. So wie Tobias Kaestli, der Historiker aus Biel, den Sommaruga gleichzeitig anfragt. Wenige Tage später treffen sich die vier erstmals in Hubers Wohnzimmer, um ihre Verschwörung zu besiegeln.
Die vier wollen weniger Zuwanderung und eine strengere Sozialpolitik

«Wir haben wie die Wilden diskutiert und so lange am Text gefeilt, bis er kurz und prägnant war, kein sauertöpfisches Traktat. Vor allem wollten wir weg von den Widersprüchen einer SP-Wunschökonomie», sagt Linder heute auf dem Gurten. Genau in jener Zeit habe er einen typischen Streit gehabt mit einem Parteikollegen. «Der hat zu mir gesagt, er wolle den Kapitalismus abschaffen und würde sich nie Aktien kaufen. Da habe ich ihn gefragt: ‹Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, wie deine Pensionskasse finanziert wird?› Unglaublich.»
Huber nickt. Sagt lange nichts. Dann: «Für mich war der Schreibprozess damals auch eine Selbstvergewisserung. Ich bin nicht ein Mensch ohne Zweifel.» Huber bückt sich an seinem Hund vorbei, greift in den Rucksack und legt ein Dokument auf den Tisch, neben Linders Tabak. Verwaltungsreformen – wenn die Bürokratie den Sieg über die Idee davonträgt, steht auf dem Deckblatt. Es ist eine dichte Analyse, die er in den vergangenen Monaten geschrieben hat. Nur für sich. Seine politischen Ämter hat Huber vor drei Jahren abgegeben. Stattdessen präsidiert er das Berner Stadttheater, arbeitet als Anwalt und produziert Musik in seinem Tonstudio.
Gegen kurzatmige Klientelpolitik
Als sich im März 2001 ein heisser Sommer ankündigt, sitzen die vier Verschwörer in Sommarugas Garten am Fuss des Gurten. Auf den Festplatten ihrer Computer haben sich die vielen entworfenen Absätze inzwischen verdichtet zu elf Seiten. Darauf stehen unmissverständliche Sätze: Die SP müsse sich von ihrem Selbstverständnis als Arbeiterpartei lösen, ausserdem von ihrer «kurzatmigen Klientelpolitik». Sie dürfe nicht ständig auf «Sonderforderungen» der Gewerkschaften eingehen, sich nicht ständig vor den Karren «bewegungspolitischer Kamikaze-Kommandos» spannen lassen. Ausserdem müsse sie auf «Rechte und Pflichten» in der Sozialpolitik setzen und eine Begrenzung der Zuwanderung von ausserhalb der EU akzeptieren. Es sind harsche Worte, und sie sollen bald an die Öffentlichkeit getragen werden. Das Werk brauche darum langsam einen Namen. Sie finden ihn: Das Gurten-Manifest für eine neue und fortschrittliche SP-Politik.
Geordneten Wettbewerb oder staatliche Führung
Während die vier Aufständischen nun wöchentlich auf dem Gurten ihr Manifest schleifen, tobt im Innern der SP eine der grössten Krisen in der Parteigeschichte. Die Delegierten streiten darüber, ob man eine Privatisierung der Swisscom, eine Liberalisierung der Post und des Strommarktes akzeptieren solle oder nicht. Es tun sich Gräben auf: zwischen der lateinischen und der deutschsprachigen Schweiz, zwischen Gewerkschaftern und Konsumentenvertretern. In den erhitzten Reihen kursieren mehrere Strategiepapiere. Rudolf Strahm etwa fordert die SP auf, einen geordneten Wettbewerb bei öffentlichen Gütern zuzulassen. Die welsche Alliance de Gauche hält dagegen. Am 5. Mai 2001 ruft Fraktionschef Franco Cavalli schliesslich in Bern zu einer Aussprache, die für Ruhe sorgen soll. Auch Simonetta Sommaruga ist dabei. Sie sagt kein Wort vom Gurten-Manifest. Und verschickt ein paar Tage später eine Einladung an die Medien. Erst wenige Stunden zuvor war das Manifest fertig geworden.
Manifest bringt die SP zum Brodeln
Am Mittwoch, dem 10. Mai 2001, verteilen die vier Verschwörer ihr Manifest in einem Sitzungszimmer in Bern an die Journalisten. Jeder der vier Verschwörer liest ein paar Absätze, dann ziehen die Journalisten wieder ab.
Die vier warten gespannt auf eine Reaktion. Linder weiss, dass sie kommen wird. Seit Jahren treffen sich Parlamentarier in seinem Wohnzimmer, um bei Wein und Zigaretten den Zustand der Welt zu beschreiben. «Linders politische Salons» werden die Treffen genannt. In seinem Umfeld, das weiss Linder, wird das Manifest für Unruhe sorgen. Doch was dann passiert, überrascht selbst ihn.
In den nächsten 48 Stunden brodelt es im Innern der Partei. Dieses Gurten-Manifest «sei völlig nichtssagend», sagt der Bündner Nationalrat Andrea Hämmerle in der Wochenzeitung. «Es besteht nur aus Leerformeln, und diese haben erst noch einen freisinnigen Drall.» An selber Stelle schimpfen auch Werner Marti und Christine Goll. Der Waadtländer Nationalrat Pierre-Yves Maillard schreibt mit anderen eine Replik im Bund: Das Manifest enthalte «ein paar dürftige Seiten mit Ideen von rechts».
Partei verhindert Nationalrats-Kandidatur
Von nun an bekommt Linder «die ganze Humorlosigkeit der Nomenklatura» zu spüren. Als am 5. Juni 2001 die Session beginnt, klingelt niemand an seiner Türe, um mit ihm seinen Wein zu trinken. Auch fortan nie mehr. Huber in Köniz hört in diesen Tagen nur den einen oder anderen Spruch auf der Strasse. Monate später wird er bei den Berner Grossratswahlen in seinem Wahlkreis das viertbeste Ergebnis einfahren. Auf die Liste zu den Nationalratswahlen setzt ihn die Partei nicht.
SP verweigert Diskussion
Am schwierigsten aber hat es Sommaruga: Sie muss in dieser Sommersession 2001 im Nationalrat mit Kollegen zusammenarbeiten, von denen sich einige weigern, mit ihr zu reden. Als sie zwei Jahre später als erste Sozialdemokratin für den Kanton Bern in den Ständerat einzieht, sei dies eine grosse Erleichterung gewesen, sagen Vertraute. Einmal noch ruft im Sommer 2001 der Waadtländer Maillard bei Linder an, um mit ihm über das Papier zu diskutieren. Ansonsten ernten die vier Verschwörer eisiges Schweigen.
«In jenem Sommer», sagt Wolf Linder oben auf dem Gurten, «habe ich mich zum ersten Mal gefragt, ob ich noch Mitglied sein will in diesem Verein.» Er blieb. Aber er äussert sich kaum mehr öffentlich zur SP. Stattdessen reist er für Regierungen und NGOs nach Nepal, Mosambik oder in den Sudan und teilt sein Wissen zu Dezentralisierung und Demokratisierung. Am Jubiläumstag des Gurten-Manifests am 10. Mai hält Linder zwei Vorträge in Polen.
SP-Exponenten für Einwanderung von ausserhalb des EU-Raums
Einer der schärfsten Kritiker des Manifests ist Fraktionschef Cavalli. Er erklärt seine Wut heute so: «Dieses Manifest geht davon aus, dass man als Arbeiter oder Künstler seine Werte mit Bankiers und Unternehmern teilen kann. Aber das geht nicht. Die haben fundamental andere Interessen.» Wenige Tage nach dem Auftritt der Verschwörer unterschreiben Cavalli und Maillard ein Gegen-Manifest des Zürcher SP-Präsidenten Koni Loepfe, in dem sich dieser gegen die im Manifest geforderte Begrenzung der Zuwanderung ausspricht und fordert, die Personenfreizügigkeit sei auf Menschen von ausserhalb des EU-Raums auszudehnen. Auch Christine Goll, Andreas Gross, Hildegard Fässler und Anita Thanei setzen ihre Namen unter das Protestschreiben.
Parteipräsidentin Brunner befürchtete, das Manifest könnte die Partei spalten
Am 23. Juni 2001 ruft die SP zur Delegiertenversammlung nach Luzern. Präsidentin Christiane Brunner sagt in ihrer Eröffnungsrede, sie sei stolz darauf, wenn Parteimitglieder «hochstehende inhaltliche Debatten» führten. Aber die Diskussion darüber, ob die SP eine Arbeiterpartei sei oder eine Mittelstandspartei, erachte sie als völlig überflüssig – sie sei sowohl das eine als auch das andere. «Trotzdem muss klar bleiben, dass wir eine linke Partei sind und dass wir nicht zu einer Zentrumspartei werden.» Es ist die offizielle Beerdigung des Gurten-Manifests, sechs Wochen nach seiner Geburt. Wäre sie darauf eingegangen, sagt Brunner heute, hätte dies die Spaltung der Partei bedeuten können.
Bei den Parlamentswahlen 2007 sinkt der Wähleranteil der SP von 23,5 Prozent auf 19,5 Prozent. Die Partei verliert gegenüber den vorigen Wahlen jede fünfte Stimme – bei den 25- bis 34-Jährigen sind es gar vier von zehn, die der SP den Rücken kehren. Die Partei enttäusche die moderat linken Wähler, stellen Politologen der Uni Lausanne fest. Eine weitere Studie zeigt, dass die SP-Wähler mit den Kandidaten der Partei den Wunsch nach gesellschaftlicher Offenheit und Toleranz teilen – sich aber viel stärker als die Parteielite für Marktwirtschaft und gegen Staatskontrolle aussprechen. Der Entscheid für eine allzu staatsfreundliche und gewerkschaftsnahe Linie bedeute, dass die SP weiter schrumpfen werde, sagt Politologe Andreas Ladner. «Man kann nicht aus genereller Sympathie für bestimmte Werte ständig eine Partei wählen, die im praktischen Politikalltag nicht das macht, was man will.»
Im Restaurant auf dem Gurten wird es kühler. Die Männer gehen langsam hinunter zur Station der Gurtenbahn. Der Hund läuft nebenher. «Aber du, Wolf», sagt Huber zu Linder, «ich finde das Manifest immer noch gut.» – «Natürlich», sagt Linder. «Jetzt wollen sie ja wieder den Kapitalismus abschaffen.»

Dieser Artikel erschien zuerst in der «Zeit» vom 5.5.2011

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