Vom Recht der Staaten zum Recht der Menschen
«Die Verantwortung zum Schützen» – in Libyen findet eine neue Doktrin erste Anwendung. Ein Gesprächsthema in «kontext» auf DRS 2
«Die Menschenrechte sind stärker geworden, die staatliche Souveränität schwächer», sagt Bruno Schoch, Projektleiter bei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt. Und Astrid Epinay, Völkerrechtlerin an der Universität Fribourg, stellt fest: «Die Verantwortung, Menschen vor bestimmten schweren Verbrechen zu schützen, ist heute Völkerrecht.»
Es geht um die neue UNO-Doktrin, die «responsibility to protect», die beim UNO-Weltgipfel 2005 allgemein anerkannt und mit der Resolution 1674 des UNO-Sicherheitsrates zum Gegenstand eines völkerrechtlich verbindlichen Dokumentes wurde.
Menchenrecht bricht absolute Souveränität
Das vollzieht sich rund 360 Jahre nach dem Ende des Dreissigjährigen Krieges mit dem Westfälischen Frieden (1648), bei dem die absolute Souveränität der Staaten zum internationalen Recht gemacht wurde. Es gab über dem Staat keine höhere Macht, und die Kaiser und Könige und Kurfürsten, die katholischen und protestantischen Herren über die Länder Europas und in Übersee, konnten über ihre Untertanen herrschen, wie sie wollten. Und auch nach der französischen Revolution galt: Ein «Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates» ist unzulässig; die Souveränität der Staaten gilt absolut.
In Frage gestellt wurde dies heilige Prinzip erst, als nach der Erfahrung von Völkermord und Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert die Allgemeine (universelle) Erklärung der Menschenrechte verabschiedet wurde (1948), die jederzeit für alle gelten sollen, egal auf welcher Seite einer Grenze sie leben. Aber es brauchte noch die Schocks von Ruanda, von Bosnien und Kosovo, bis diese tief menschliche Regung eine anerkannte politische Form erhielt,
Schutz gegen Völkermord und Kriegsverbrechen
Und das ist die neue Doktrin: Der Schutz vor Völkermord, ethnischer Säuberung, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit soll Verpflichtung für alle Staaten sein, und wo ein einzelner Staat sie nicht einhalten kann oder will, ist es das Recht und die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, diesen Schutz durchzusetzen. Mit friedlichen und, wenn es nicht anders geht, mit militärischen Mitteln. Unter der Bedingung, dass der UNO-Sicherheitsrat jeden Fall im Einzelnen prüft und ein entsprechendes Mandat erteilt.
Es war auf dem UNO-Weltgipfel 2005, als diese «Responsibility to Protect» allgemeine Anerkennung fand und in Resolution 1674 des Sicherheitsrates in einem völkerrechtlich verbindlichen Dokument erstmals erwähnt wurde. Das ist ein historischer Schritt, weil diese «Schutzverantwortung» der internationalen Gemeinschaft die «absolute» Souveränität der einzelnen Staaten bricht.
Das bringt noch nicht die heile Welt. Das ist noch immer eine Entscheidung von Fall zu Fall. Das schliesst wirtschaftliche und politische Machtinteressen der Staaten im Sicherheitsrat als Triebkraft nicht aus – bei denen, die eingreifen wollen und bei den anderen; beide treibt vielleicht die Gier nach Öl. Es schliesst das Schielen auf innenpolitische Konstellationen nicht aus, wie in Deutschland bei den Landtags- oder in Frankreich bei den Präsidentschaftswahlen. Wo doch Sarkozy selber noch vor kurzem mit Gaddhafi atomaren Handel trieb und seine Minister bei den Despoten in Nordafrika fröhliche Weihnachten verbrachten.
Ethische Leitlinien auf dem Feld der realen Politik
Und doch gilt, wie der Friedensforscher Schoch in «kontext» sagt, dass die neue «Schutzverantwortung» im Völkerrecht «eine Verschiebung vom Recht der Staaten zum Recht der Menschen» bedeutet, und dass Politiker, wenn sie nur wollen, nicht «warten müssen, bis Tausende massakriert wurden» (Barack Obama in seiner Fernsehansprache zu Libyen). Die neue «Responsibility» liegt im Interesse der Menschen, die um Freiheit kämpfen, Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit.
Mit Schoch ist die Völkerrechlerin Epinay einig darin, dass wir uns in einer Übergangsphase befinden, in einem schwankenden Hin und Her zwischen Interventionsbereitschaft und Skepsis. Aber auf die Dauer, im geschichtlichen Prozess, kann sich, meint Epinay, aus der «Schutzverantwortung» eine «Schutzpflicht» verdichten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine