Kommentar
kontertext: Die Realität hinter Zahlen
«Seit Monaten lebt das Thema Migranten und Corona von Andeutungen und anekdotischer Evidenz», schrieb Olivera Stajić am 1. Dezember in Der Standard. Die Versuche, COVID-19 für nationalistische Politik zu instrumentalisieren, gab es immer wieder. Man erinnere sich nur an die Aussage des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz, der Mitte August sagte: «Das Virus kommt mit dem Auto nach Österreich» und damit vor Reisezielen auf dem Balkan warnte. Auch in der Schweiz liess die SVP jüngst einen weiteren symbolpolitischen Versuchsballon steigen, indem der SVP-Fraktionspräsident und Nationalrat Thomas Aeschi forderte, die «Corona-Ansteckungen nach Migrationsstatus aufzuschlüsseln».
Die Basler Zeitung hatte am 2. Dezember 2020 berichtet, dass «70 Prozent Migranten in den Spitalbetten» seien, wozu es zwar keine offiziellen Zahlen, aber anonym aussagewillige Pflegekräfte gebe. Anlass genug für Aeschi, nicht nur eine Motion zur Erhebung dieser Zahlen anzukündigen, sondern auch gleich die möglichen Konsequenzen vorzuschlagen: «Wenn die Zahlen beweisen, dass Ausländer überproportional von unserem Gesundheitssystem profitieren, muss man für sie höhere Tarife einführen, da das Gesundheitswesen stark durch die Schweizer Steuerzahler subventioniert wird.» (20Minuten, 4. Dezember 2020)
Zu so einem Schluss kann nur jemand kommen, an dem die Realitäten in der Schweiz seit Jahrzehnten vorbeigerauscht sind. Realitäten, die man – wenn man schon das Glück hatte, sie nicht selbst erleben zu müssen – durchaus entdecken kann, wenn man nur die Augen offenhält:
Die PrimarschülerInnen des Dorfes, wo ich in den 1980er Jahren zur Schule ging, lernten alle im Becken der örtlichen Rehabilitationsklinik schwimmen. Klassenweise suchten wir das Ehrfurcht einflössende Gebäude auf, worin Verunfallte wieder gesunden sollten, während wir uns im Schwimmbad mal abmühten, mal vergnügten. Das Becken befand sich im Untergeschoss, das man nur über einen langen Weg durch den Lobby- und Aufenthaltsbereich sowie eine Treppe an dessen Ende erreichte. Patienten, die gerade nichts zu tun und keine Therapie hatten, kamen uns an Krücken entgegen oder sassen in ihren Rollstühlen und schauten mit aufmunternden Blicken dem Kinderumzug zu, dem sie ab und zu eine belustigte Bemerkung hinterherriefen, die wir nicht verstanden.
Wir hingegen trippelten stumm vorüber und trauten uns kaum, nach links oder rechts zu gucken, weil wir wussten, dass wir dort vor allem das sähen, was es nicht mehr zu sehen gibt: Arme, an deren Stelle leere Ärmel schlackerten; Beine, von denen nur noch die unter dem Oberschenkel eingeklappte Hose zeugte. Ganz offensichtlich war bei diesen Menschen etwas nicht mehr ganz, was bei uns noch intakt war, weshalb wir jetzt auch ohne Geh- und Rollhilfen diesen Gang hinter uns bringen konnten, um uns dann, eine diffuse Beschämung abschüttelnd, brüllend die Treppe hinunterzustürzen.
Erst später begriff ich, dass sie Italienisch sprachen und mein Vater, der in der Klinik arbeitete, von ihnen diese Sprache gelernt hatte. Und noch ein paar Jahre später wurde mir bewusst, dass diese Klinik ein Abbild der Arbeitswelt und Migrationspolitik der Schweiz ist, die traditionell darin besteht, dass man nicht-akademische, ausländische Arbeitskräfte für diejenigen schlecht bezahlten und körperlichen Arbeiten einsetzt, für die sich keine einheimischen Arbeitskräfte finden. Die Menschen, die verunfallen, waren immer schon die Menschen in den gefährlichen Berufen.
In Zeiten der Corona-Pandemie ist der Pflegeberuf ein gefährlicher Beruf. Und alle wissen, dass das Gesundheitssystem in der Schweiz samt Altenpflege und Spitex zusammenbrechen würde, gäbe es nicht ‹Menschen mit Migrationshintergrund›, die in diesen Bereichen tätig sind. Die Soziologin Sarah Schillinger erläuterte diese Fakten am 3. Dezember 2020 im Interview auf bajour: «Migrantinnen und Migranten arbeiten überdurchschnittlich häufig in Branchen, in denen die Ansteckungsgefahr erhöht ist und Schutzkonzepte weniger greifen: in der Pflege, der Reinigung, auf dem Bau, in der Landwirtschaft, im Detailhandel, in der Logistik.» Diese Arbeitskräfte sind Gefahren ausgesetzt, denen viele SchweizerInnen ausweichen können.
In den USA sind überdurchschnittlich viele Menschen aus dem Gesundheitspersonal an Corona verstorben. Es mangelte unter dem inzwischen abgewählten Präsidenten Donald Trump eklatant an Schutz- und Hygienematerial, aber auch am Willen, diese Menschen zu schützen. Zugleich zeigte sich am amerikanischen Beispiel früh, dass es grosse Differenzen innerhalb der Bevölkerung dahingehend gibt, wer sich überhaupt mit COVID-19 infiziert: Die New York Times berichtete bereits im Mai 2020, dass AfroamerikanerInnen in gewissen Counties doppelt bis viermal so oft von einer Infektion betroffen sind. Diese Menschen sind dem Virus öfter ausgesetzt, weil sie «front-line jobs» haben, die man nicht ins sichere Homeoffice verlegen kann; weil sie oftmals auf öffentlichen Verkehr angewiesen sind und in engen Wohnungen mit generationsübergreifenden Familien leben. Selbstisolation kann in so einer Umgebung nicht funktionieren. Homeoffice und Quarantäne innerhalb der Familie muss man sich – rein logistisch mit mehreren Zimmern und zwei Baderäumen – leisten können. Ganz zu schweigen von «social distancing», das «unmöglich ist für Menschen, die gar kein Zuhause haben oder die in Flüchtlingsunterkünften auf engstem Raum leben», wie Sarah Schillinger auf bajour weiter ausführte.
Der Gedanke, dass COVID-19 ein grosser Gleichmacher sei, weil es jeden treffen könnte, hält den Realitäten schlicht nicht stand. Auch wenn die Menschen den Luftraum teilen, sind sie eben doch nicht alle ‘gleich’ und in diesem Sinne auf das Körperliche reduzierbar, wie der Umwelthistoriker und COVID-19-Überlebende Marco Armiero in einem persönlichen Bericht eindringlich festhält. Diese Pandemie sei tief eingeschrieben in die aktuellen sozioökologischen Beziehungen, welche sowohl die Ungleichheiten als auch die Privilegien reproduzierten.
Es sind sozioökonomische Gründe, die hinter den Zahlen um Spitalbettauslastungen stehen. Falsche Schuldzuschreibungen, wie sie von der SVP in Umlauf gebracht werden, lenken nur von der demokratischen Frage ab, die die Schweiz beantworten muss: Wie schützen wir während dieser Pandemie diejenigen, die besonderen Schutz brauchen?
Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors
Ariane Tanner ist Historikerin und Texterin aus Zürich. Ihre thematischen Schwerpunkte in Forschung, Unterricht und partizipativen Projekten sind die Wissenschafts- und Umweltgeschichte, Erinnerungskulturen und das Anthropozän.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder.