Dr. KURIOS

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Dr. Kurios: Die schrecklichste Nacht seines Lebens

Martina Frei /  Ein Mann wird wochenlang von schwersten Hustenanfällen mit Atemnot geplagt. Seine Ärzte halten an einer falschen Diagnose fest.

Er erwachte aus dem Schlaf heraus, weil er keine Luft mehr bekam. Je mehr sich der Mann anstrengte, umso weniger klappte es mit dem Luft holen. Es fühlte sich an, als stecke ein Ballon in seiner Luftröhre. Ein quietschendes Geräusch drang aus seiner Kehle. 

Nach 20 endlos langen Sekunden gelang es ihm, wieder Luft einzusaugen. Die grauenvolle Atemnot ängstigte nicht nur den in seiner Not wild gestikulierenden Mann, sondern auch seine Frau, die versuchte, ihn zu beruhigen.

Der Patient hustend und nach Luft ringend mitten in der Nacht, aufgenommen mit einer Überwachungskamera.

Schon seit einigen Wochen hatte der etwa 40-Jährige ein komisches Gefühl in der Kehle. Kaum legte er sich hin, fühlte es sich an, als würde sich seine Luftröhre schliessen. Sein erster Verdacht: Irgendeine Substanz im Schlafzimmer, die bei ihm Atemprobleme auslöste. Er kannte das von früher. Als Teenager hatte er beim Kontakt mit Katzen Asthma bekommen, später reagierte er auf Schimmel an der Wand. 

«Würgehusten» mit Atemnot

In der Hoffnung, dass ein Zimmerwechsel das Problem beheben möge, schlief er nun auf dem Sofa in der Stube. Doch dort war es nun zur akuten Luftnot gekommen. 

Also versuchte es das Ehepaar mit einem weiteren Umgebungswechsel und quartierte sich bei seinem Vater ein, einem pensionierten Arzt. Doch auch hier traten die beängstigenden Anfälle von Atemnot und «Würgehusten», wie es der Patient nannte, auf.

Er erinnerte sich, dass er wenige Wochen, bevor dieser Horror begann, bei einer Prüfung in einem kleinen Raum sass. Eine der anderen anwesenden Personen dort hustete nervtötend. Vielleicht hatte er sich damals angesteckt?, mutmasste der Kranke.

Der Mann begann im Internet zu recherchieren. Weil sein Husten so komisch tönte, kam er auf die Diagnose Keuchhusten. Je mehr er darüber las, umso passender erschien ihm diese Diagnose. 

Diagnose Refluxerkrankung

Nach mehreren weiteren Anfällen von Atemnot in seinem Elternhaus, in einem Lebensmittelladen und im Auto schickte seine Familie den Leidenden auf eine Notfallstation in einem angesehenen Spital in einer grossen US-Stadt. Auf seiner Website whoopingcough.info beschreibt der Patient, der anonym bleiben möchte, seine Erlebnisse.

Könnte es Keuchhusten sein?, fragte er die Doktoren. Doch mehrere Notfallärzte, ein Hals-Nasen-Ohren-Facharzt, ein Magen-Darm-Spezialist und ein Lungenfacharzt waren sich einig: Er litt an einer schweren Refluxerkrankung. Dabei fliesst (insbesondere im Liegen) Magensaft hoch bis in den Rachen, weil der Schliessmuskel am Mageneingang nicht mehr richtig schliesst. Der saure Saft reizt die Schleimhaut und kann Husten auslösen.  

«Haben Sie Stress?»

Der Mann wollte den Ärzten das Video zeigen, das er zu Hause mit einer Überwachungskamera aufgenommen hatte. Dort sah man ihn husten und nach Luft ringen. Der beigezogene Lungenfacharzt lehnte es aber ab, sich das Video anzusehen – er wolle auf eine «objektive» Art zur richtigen Diagnose kommen, sagte er dem Patienten. Ob er Stress habe?, erkundigte sich der Arzt. Denn Stress könne den Reflux verstärken. Sein grösster Stress seien die Hustenanfälle, erwiderte der Patient. 

Bei vier Konsultationen im Spital – eine davon per Ambulanz – sah der Mann rund ein Dutzend Ärzte. Sie verordneten ihm Magensäureblocker und Medikamente zum Inhalieren. Nichts davon half. 

Schliesslich konsultierte er einen Infektiologen. Dieser Arzt beschied ihm: Er habe in 20 Jahren keinen Fall von Keuchhusten gesehen. Das sei ein Reflux.

Der Kranke bestand auf einem Bluttest. «Wider besseres Wissen» und nur damit der Patient seinen Frieden habe, willigte der Arzt ein.

Kolumne «Dr. Kurios»

Choleraausbruch mitten in Paris, Explosion des Patienten bei der Darmspiegelung, Halluzinationen durch Hirsebällchen – in der Medizin passieren immer wieder unglaubliche Dinge. Glücklicherweise aber nur sehr selten. Seit über 20 Jahren sammelt die Autorin – sie ist Ärztin und Journalistin – solche höchst ungewöhnlichen Krankengeschichten. Aus ihren früheren Kolumnen sind bisher zwei Bücher hervorgegangen: «Das Mädchen mit den zwei Blutgruppen» und «Der Junge, der immer in Ohnmacht fiel».

Konsultation via Internet bei einem britischen Fachmann

Bei seiner eigenen Recherche war der über Wochen von Atemnot-Anfällen geplagte Mann mittlerweile auf den britischen Hausarzt Douglas Jenkinson gestossen. Jenkinson behandelte laut eigenen Angaben bis zu seiner Pensionierung 2011 über 700 Menschen mit Keuchhusten. Er kennt alle Facetten dieser Erkrankung – und weiss aus jahrzehntelanger Erfahrung, wie oft diese Diagnose von Ärzten verpasst wird. 

Der Patient konsultierte Jenkinson per Skype. Jenkinson bestätigte seine Diagnose: Es war Keuchhusten. Dasselbe bestätigte kurz danach auch der Bluttest. 

Die Spitalrechnungen für die Odyssee beliefen sich auf über 22’000 US-Dollar, wovon die Versicherung rund 15’600 übernahm. Zum Vergleich: Die richtige Behandlung von Keuchhusten mit einem Antibiotikum kostet weniger als 30 US-Dollar.

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➞ Lesen Sie hier: Die grössten Missverständnisse beim Keuchhusten. Wie man ihn erkennt. Und was der Arzt Douglas Jenkinson alles darüber weiss.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Dr. Kurios

Höchst seltene und manchmal auch skurrile medizinischen Fallgeschichten.

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2 Meinungen

  • am 17.06.2024 um 10:34 Uhr
    Permalink

    Super Artikel. Es wird immer wieder kolportiert, dass viele Ärzte bestimmte früher verbreitete Krankheiten nicht mehr diagnostizieren können, weil sie sie in natura nie gesehen haben. Die Keuchhusten-Sache klingt danach. Trotz der hohen Kosten hat der Mann sich letztlich selber geholfen; der Keuchhustenspezialist bestätigte seinen Verdacht – besser so, als jahrelang falsche Medikation mit immensen Nebenwirkungen. Heute muss man als Patient selber ziemlich auf Zack sein, es ist leider so.

  • am 18.06.2024 um 16:13 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank für diesen Artikel.
    Jetzt weiß ich endlich was mich vor etwa drei Monaten ‚geplagt’ hat. Auch mir konnte kein Arzt erklären, was für merkwürdige Erstickungsanfälle ich hatte, bzw. es wollte es niemand wirklich ernst nehmen. Dank des Videos lässt sich definitiv die Parallele ziehen.
    Mich interessieren natürlich die Fortsetzung des Artikels, da mein Keuchhusten nicht folgenlos geblieben ist. Ich habe bis heute damit zu tun und würde natürlich gerne wissen, wie man die Auswirkungen wieder loswerden kann.

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