Schweizer Wirtschaft wächst durch Zuwanderung
Mit der Wirtschaft verhält es sich wie mit dem Kuchen: Backen wir einen Grösseren, heisst das nicht, dass alle mehr zu essen haben. Denn die Grösse der individuellen Kuchenstücke hängt von Verteilung und der Zahl der Menschen am Tisch ab. Heftiger als über die Verteilung wird über die Zahl der Menschen debattiert, seit der Bund neue Bevölkerungsprognosen veröffentlicht und die Organisation «Ecopop» eine Initiative zur Begrenzung der Bevölkerungszunahme in der Schweiz angekündigt hat. Damit lohnt es sich, die Zahlen zu analysieren.
Bevölkerung treibt Wirtschaft
Die Schweizer Wirtschaftleistung, gemessen am teuerungsbereinigten Bruttoinlandprodukt (BIP real), ergibt sich aus dem BIP pro Person multipliziert mit der Zahl der Personen, die in der Schweiz leben. Von 1990 bis 2010 wuchs das reale BIP insgesamt um 29 Prozent, die Bevölkerung um 16 Prozent (siehe Grafik). Das BIP pro Kopf und damit das individuelle Stück am Wirtschaftskuchen ist seit 1990 also nur noch um durchschnittlich 11 Prozent gewachsen; das entspricht einer mittleren jährlichen Wachstumsrate von 0,55 Prozent.
Aus diesen Daten der offiziellen Statistik ergibt sich die erste Folgerung: In den letzten 20 Jahren war die Zunahme der Bevölkerung der stärkere Treiber des Wirtschaftswachstums als die Zunahme des BIP pro Kopf oder des Konsums pro Kopf. Damit wendete sich 1990 der langfristige Trend. Denn zwischen 1950 und 1990 wuchs das BIP pro Kopf in der Schweiz (plus 145 %) weit stärker als die Bevölkerung (plus 43 %). Das Gleiche gilt in den meisten andern Industriestaaten bis heute.
Der starke Zuwachs der Bevölkerung in der Schweiz seit 1990 resultiert hauptsächlich aus der Zuwanderung, zum kleineren Teil aus dem Geburtenüberschuss im Inland.
Wirtschaft treibt Naturverbrauch
Wächst die Wirtschaft, so wachsen tendenziell auch der Verbrauch von natürlichen Ressourcen und die Umweltbelastung. Diese Erkenntnis fassten der Biologe Paul P. Ehrlich und der Physiker John P. Holdren (beide USA) schon 1971 in folgende Formel: Umweltbelastung ergibt sich aus dem Produkt aus Bevölkerung und Wohlstand (respektive BIP) pro Kopf, dividiert durch den Einfluss des technischen Fortschritts.
Die Richtigkeit dieser Formel zeigen auch die Schweizer Statistiken über Energieverbrauch und Wohnungsbestand; der Energieverbrauch ist neben der Abfallmenge der wichtigste Indikator für den Verbrauch von natürlichen Ressourcen, während die Wohnungsstatistik als Indikator für Raumverbrauch herangezhogen werden kann:
o Der gesamte Energiekonsum innerhalb der Schweiz wuchs von 1960 bis 1990 etwas stärker als die Wirtschaft. Seit 1990 hingegen nahm er weniger stark zu als das BIP insgesamt sowie die Bevölkerung. Pro Kopf hat damit der Energieverbrauch leicht abgenommen. Allerdings liegt das nicht nur am technischen Fortschritt, der die Energieeffizienz erhöhte, sondern auch an der Auslagerung von energieintensiven Branchen ins Ausland. Damit hat sich der Importüberschuss an grauer Energie erhöht; als «graue Energie» bezeichnet man die Energie, die für die Herstellung und den Transport der importierten Güter im Ausland verwendet wurde.
o Die Wohnungszahl wuchs seit 1990 in der Schweiz etwas weniger stark als die Wirtschaft insgesamt, aber weiterhin stärker als die Bevölkerung. Noch stärker als die Anzahl der Wohnungen dürfte seit 1990 die (statistisch nicht erfasste) Fläche aller Wohnungen zugenommen haben.
Wirtschaft gegen Umwelt
An der Zunahme der Bevölkerung kristallisieren sich die divergierenden Interessen: Die Wirtschaft und ihr Staatssekretariat (Seco) freuen sich, wenn die Zunahme der Bevölkerung das Wirtschaftswachstum steigert: «Die Zuwanderung stärkt die Binnenwirtschaft, insbesondere die Bauwirtschaft», freute sich Serge Gaillard, Leiter der Seco-Direktion für Arbeit, kürzlich in einem Interview mit dem Zürcher «Landboten». Die Umwelt- und Bevölkerungsorganisation «Ecopop» hingegen will die Bevölkerung begrenzen, weil deren Zunahme als tragender Pfeiler des Wirtschaftswachstums die Natur belastet.
Im Zwiespalt befindet sich das Volk: Die Freude am wachsenden Wirtschaftskuchen wird getrübt durch den Umstand, dass dieser Kuchen unter mehr Personen verteilt werden muss und gleichzeitig die Konkurrenz um Wohn- und Naturraum in der Schweiz grösser wird.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Ich mag nicht ganz fit im Kopf sein, aber ich verstehe die Botschaft nicht. Das BIP pro Kopf ist gewachsen! D.h. das Wirtschaftswachstum hat eben nichts mit den Zuwanderern zu tun, sondern ist produktivitätsbedingt. Sonst wäre das BIP pro Kopf stagniert. Alle anderen Schlussfolgerungen sind m.E. Scheinkorreklationen, sprich an den Haaren herbeigezogen. Um es deutlich zu sagen: Ich habe die Schnauze voll von dem Herbeigerede der Probleme, die von den Einwanderern verursacht werden sollten. Die Schweizer Bevölkerung überaltert, sie pendelt, sie hat ein Zweitauto, sie fährt am Wochenende ins Tessin, lebt im Hinterland der S-Bahn und verbraucht immer mher Quadratmehter Wohn- und Gewerbefläche je Kopf. Das hat mit den Immigranten wirklich sehr sehr wenig zu tun.
Lieber Markus Bollinger
Man kann auch fit sein im Kopf, wenn man nicht jeden Artikel oder jede Grafik versteht.
Es trifft zu: Das BIP pro Kopf ist auch nach 1990 weiter gewachsen. Noch stärker als das BIP pro Kopf aber ist seit 1990 die Bevölkerung, also die Zahl der Köpfe,in der Schweiz gewachsen. Die Multiplikation der Faktoren BIP pro Kopf und Kopfzahl ergibt das BIP insgesamt. Mein Bericht und die Grafik zeigen nur, dass der Faktor Bevölkerungszahl (Geburtenüberschuss plus Einwanderungsüberschuss) seit 1990 stärker gestiegen ist als der Faktor BIP pro Kopf. Das ist das Ergebnis von Statistik und Arithmetik, kein «Herbeigerede von Problemen".
Hanspeter Guggenbühl
Grüezi Herr Guggenbühl Ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, dass viele Probleme hausgemacht sind, die wir nun den Zuwanderern in die Schuhe schieben wollen. Boden wird seit geraumer Zeit knapp, die Pendlerströme nehmen auch ohne Ausländer zu. Die Frage stellt sich auch, was wir für ein Wirtschaftswachstum ohne Ausländer hätten. Ich bin nicht sicher, ob dieses nicht weniger stark (gewesen) wäre. Und ich bezweifle, dass die durch Zuwanderung verursachten Effekte besonders ins Gewicht fallen. Eher die der Globalisierung und die mit dem Wohlstand verbundene Raum- und Verkehrsbeanspruchung. Deshalb reagiere ich empfindlich auf die «Zuwanderer-Debatte". Bezüglich Ihrer Berechnungen habe ich es einmal mit Excel versucht, konnte aber in der Simulation kein realistisches BIP-Wachstum so hinbekommen, dass das BIP pro Kopf gleich stark oder stärker wuchs als die Köpfe, m.E. bräuchte es da ein Wirtschaftswachstum grösser als China. Ich bin als Betriebsökonom (nicht Volkswirtschaftler) deshalb immer noch der Meinung, ein solcher Vergleich der Wachstumsraten sagte nichts aus.