Das CVP-Märchen von den «christlichen» Werten

Kurt Marti /  Die «christlichen» Werte sind links oder linksliberal aufgeladen. Das geht aus einer Umfrage zu Christentum und Politik hervor.

An der 100-Jahr-Feier der CVP vom letzten Wochenende stimmte Bundesrätin Doris Leuthard ein Loblied auf die christlich-abendländischen Werte an: «Viele bekennen sich nicht mehr klar zum christlichen Glauben. Aber viele identifizieren sich mit der christlichen Tradition des Landes. Christliche Prinzipien haben eine starke Akzeptanz in der Gesellschaft – der Einsatz für sozial Schwache, für die Familie, das Eintreten für die Würde des Menschen, den Rechtsstaat, für Gleichbehandlung. Darauf kann die CVP bauen.» Dabei verwies Leuthard auf «eine kürzlich durchgeführte Umfrage in Deutschland zu Christentum und Politik».

Die gesamte Medienkolonne der Schweiz übernahm einmal mehr kritiklos dieses Märchen von den christlichen Werten. Von der Aargauer Zeitung bis zur Luzerner Zeitung, vom Schweizer Fernsehen bis zur NZZ.

Die «christlichen Werte» sind links oder linksliberal

Bundesrätin Leuthard interpretiert die deutsche Umfrage sehr selektiv. Während sie die «christlichen Werte» für die CVP in Anspruch nimmt, kommt Thomas Petersen vom deutschen Institut für Demoskopie Allensbach (siehe Link unten), welches die Umfrage durchführte, zu einem ganz anderen Schluss: «Ohne dass es in der Öffentlichkeit intensiver diskutiert worden wäre, ist der Begriff der christlichen Politik mit Inhalten aufgeladen worden, die man eher als links oder als linksliberal denn als konservativ bezeichnen kann.» Denn die meisten Befragten erwähnten auf die Frage, was sie unter «christlichen Werten» konkret verstehen, «den Einsatz für sozial Schwache und die Dritte Welt» und «auch das Eintreten für einen umfassenden Sozialstaat».

Petersens Folgerungen erstaunen. Denn das Institut für Demoskopie Allensbach ist keineswegs im linken Spektrum angesiedelt, sondern gilt als konservativ. Es wurde 1947 in Allensbach am Bodensee von Elisabeth Noelle-Neumann (1916 – 2010) gegründet. Sie galt jahrzehntelang als «Haus-Demoskopin» der CDU und gehörte zum Freundeskreis von Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl. Die «Pythia vom Bodensee», wie sie auch genannt wurde, attackierte immer wieder die linken Theoretiker der Frankfurter Schule, allen voran Theodor W. Adorno.

Die eigentlichen christlichen Werte serbeln weiter dahin

Petersen kommt zu einem weiteren interessanten Schluss: «Der Rückgang der Religiosität ist noch gravierender, als es der Blick auf die Zahl der Kirchenbesucher vermuten lässt, denn auch unter den bekennenden Christen schwindet der Glaube an wesentliche Elemente der Lehre.» Zu diesen wesentlichen christlichen Elementen gehören laut Petersen der Glaube, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist, dass Gott die Welt geschaffen hat, dass die Toten auferstehen und Gott dreifaltig ist.

Während die eigentlichen christlichen Werte bröckeln, glauben die Menschen laut Petersen immer mehr an «irgendeine göttliche Macht» oder an verschiedene Götter gleichzeitig, an die Seelenwanderung und an Schutzengel. Petersen spricht von «einer schleichenden Rückkehr der Naturreligionen». Das Christentum werde gleichsam «von innen ausgehöhlt».

Aufklärung gegen den Widerstand der Kirche

Wenn sich Bundesrätin Leuthard auf die «christlichen Werte» beruft, sind damit also linke und linksliberale Werte angesprochen. Auch die Werte der Freiheit, der Gleichberechtigung und der Menschenrechte gehören historisch gesehen nicht ins Portefeuille der Katholisch-Konservativen. Im Gegenteil, diese Werte mussten durch die Aufklärung gegen den heftigen Widerstand der katholischen Kirche erstritten werden.

Petersen hat den Eindruck, «dass sich das Image des Christlichen auf dem politischen Spektrum von der Position der CDU/CSU entfernt». Ähnlich dürfte auch das Urteil über die CVP ausfallen: Die «christlichen Werte» werden zwar an Parteikongressen gepredigt, aber sonst verläuft der Kurs zunehmend nach rechts.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

Petersdom_Rom

Der Vatikan und die Katholiken

Auf Papst Benedikt XVI. folgt Papst Franziskus I. Wird er die katholische Kirche reformieren oder konservieren?

Religionen

Religionen und Menschenrechte

Je fundamentalistischer religiöse Gemeinschaften sind, desto weniger achten sie Menschenrechte.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

Eine Meinung zu

  • am 18.07.2016 um 14:56 Uhr
    Permalink

    Ich finde, dass sämtliche Parteien etwas Etikettenschwindel betreiben. Bei der CVP gibt es sicher Leute, welche christliche Werte vertreten, aber auch solche, für die Profit über Menschenleben stehen, z.B. bei der Frage des Waffenhandels.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...