NZZ, (K)alter Krieg & die nützlichen Idioten 2016
Zugegeben, ich bin voreingenommen, ich habe die Neue Zürcher Zeitung, wenn überhaupt, immer mit gründlicher Skepsis gelesen. Wegen ihrer einseitig bürgerlichen Berichterstattung & gehässigen Kommentare in Zeiten des Kalten Krieges, während verschiedener Zürcher Unruhen und wegen ihrer voraussehbaren Kritik an eigenen Radiosendungen sowie Publikationen. Und als das frühere Leibblatt des Zürcher Freisinns irgendwann sogar einen Text von mir veröffentlichte, fragte ich mich reflexartig, ob auch ich ein Opfer des so gern & oft kolportierten Rechtsrutsches infolge Alterung geworden.
Aber immer hätte ich, abgesehen von ihrer ideologischen Einäugigkeit, der «alten Tante» – eine boshafte Schmeichelei, nicht nur für das Weltblatt, welches das Neuste früher sogar dreimal im Tag unter die Leute brachte – Glaubwürdigkeit unterstellt. So muss Wahrheit daherkommen. Die NZZ war eine seriöse Zeitung. Besonders im Ausland, sagten selbst Linke. Über den vierfachen Mord von Rupperswil, beispielsweise, berichtete sie nur zurückhaltend, während der boulevardeske Blick das Porträt der «Bestie» von einem Gesichtsleser deuten liess.
Was die NZZ über Männerhände & Frauen so alles weiss
Und dann das! Der Redaktor im Ressort Wissen Patrick Imhasly begibt sich am 21. August 2016 unter die Handleser, macht & verbreitet erstaunliche Erkenntnisse. «Wenn sich eine Frau für einen Mann interessiert», hat eine wahrscheinlich nicht wirklich repräsentative Auswahl von Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts dem Frauenversteher verraten, «dann schaut sie ihm nicht in die Augen und schon gar nicht auf den Hintern. Als Erstes mustert sie seine Hände.» Fitnesstraining, Muskelaufbaupräparate & Body-Sugaring (Haarentfernung) machen, leere Versprechungen, keine «Männer». Aber «Männliche Hände sind ein Markenzeichen, und sie erzählen Geschichten.» Und was für Geschichten! «Schwielige Hände gehören zu jemandem mit einer zupackenden Art … Filigrane, zarte Hände vermitteln Sensibilität und Schutzbedürftigkeit. Und grosse, warme Hände strahlen Geborgenheit aus …» Hände sind aussagekräftiger als jedes Persönlichkeitshoroskop. Und vor allem – je grösser die «Greifstärke», desto mehr «Mann» & Erfolg bei «den Frauen».
Ausgerechnet um diese «Greifstärke» ist es schlecht & schlechter bestellt. «Wenn der durchschnittliche Mann im Alter von 20 bis 34 Jahren 1985 in der rechten Hand Dinge mit einer Greifstärke von 53 Kilogramm zu zerquetschen vermochte, bringt er heute noch 44.5 Kilogramm auf», beklagt Patrick Imhasly unter dem mehrdeutigen Titel «Zunehmender Verlust an Manneskraft» aufgrund einer von ihm in der Washington Post gelesenen Studie. Dieser männliche «Verlust der Greifstärke», weiss der Wissenschaftsredaktor, sei «das traurige Ergebnis von Verweichlichung». Und daran haben Frauen keine Freude. Die, denkt sich der NZZ-Redaktor offensichtlich, träumen von Männerhänden, die zupacken können.
Nun ist die Frage der Chancen «der Männer» bei «den Frauen» seit je ein irrationales & mythenbeladenes Thema. Da darf auch die NZZ einmal Geschlechterlatein schreiben, nach dem Motto: Je grösser die «Greifstärke», desto besser der Sex. Über erotische Attraktivität lässt sich so wenig streiten wie über die Wirksamkeit von homöopathischen Notfalltropfen und Muotathaler Wetterprognosen. Wer’s glaubt, der & die glaubt’s.
Bauarbeiter leben länger
Aber lassen wir die unberechenbare Sexualität, widmen wir uns einem todsicheren Thema, dem Sterben. Aus den Händen, folgert Imhasly aufgrund einer weltweiten Studie, «kann man nämlich in einem gewissen Sinne tatsächlich die Zukunft lesen». Wer «weniger Kraft in seinen Händen hat», fasst er zusammen, sterbe früher. «Darum kann die Losung für die Männer nur lauten: Zurück auf die Baustelle, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt! Es locken ein längeres Leben – und bessere Chancen bei den Frauen.» Er hätte auch «Zurück auf die Bäume» schreiben können, es wäre nicht falscher gewesen.
Denn: Baugewerbliche & forstwirtschaftliche Berufe gehören laut der Caritas-Publikation «Arme sterben früher» aus dem Jahre 2002 zu den gefährlichsten Tätigkeiten mit der tiefsten Lebenserwartung. Und auch in der von der Welt im Mai 2011 veröffentlichten «Rangliste der 50 gefährlichsten Berufe» figurieren Gerüstbauer und Dachdecker auf den Plätzen 1 und 2. Estrichleger, Fliesenleger, Zimmerer, Maurer, Verputzer belegen Spitzenplätze und hätten, falls, wenig von ihren verführerisch kräftigen Händen. «Ein Arbeiter lebt vier Jahre weniger lang als ein Akademiker», bringt es die Informationsplattform humanrights.ch am 22. Oktober 2009 auf den Punkt. Generell gilt: Je tiefer der sozioökonomische Status, desto tiefer die Lebenserwartung. Im internationalen Rahmen wird der Unterschied zwischen Oberschichtangehörigen und Angehörigen der untersten sozialen Schichten auf bis zu zehn Jahre geschätzt.
Ich bin irritiert: Kann man nicht einmal mehr der NZZ glauben? Ist Imhasly unter die Satiriker gegangen, und kein Schwein hat’s gemerkt? Oder will er ganz einfach potenzielle Rivalen aus dem Weg räumen, indem er sie, listig, auf den Bau lockt, um dann, Klischeealarm, mit seinen, vermutlich, «filigranen, zarten» Journalistenhänden die verzweifelten Witwen zu trösten? Oder setzt die NZZ-Mediengruppe, die am 24. August bekanntgibt, sie übernehme «52 Prozent an der Zurich Film Festival AG», künftig auch in ihrem publizistischen Flaggschiff stärker auf Fiction als auf Fakten, weil’s mehr Cash verspricht?
«Paranoische Furcht vor Unterwanderung» gestern & heute
Mein Vertrauen in die gute alte & seriöse NZZ ist nach dem diesjährigen Jahrestag des Einmarsches sowjetischer Truppen in den Prager Frühling einigermassen erschüttert. Zum Glück träufelt mir am letzten Augusttag der Publizist & Kommunikationsberater René Zeyer in seinem Gastkommentar «Verblendete Wehrlosigkeit» ideologischen Balsam auf die politische Seele. «Als die Welt noch in Ordnung, zumindest überschaubar war, herrschte im Westen eine paranoische Furcht vor Unterwanderung.» Rechnet der ehemalige Kuba-Korrespondent der NZZ mit dem Kampf gegen die «‹Fünften Kolonnen› des roten Imperiums des Kommunismus» ab. Erinnert an den Bannstrahl «Moskau einfach!» gegen jede & jeden, «der ein wie auch immer ideologisch motiviertes kritisches Wort wagte». Daran, dass «jeder Besuch eines westlichen Politikers im Reich des Bösen … argwöhnisch beäugt» wurde. Und setzt – wir alle wissen, der «russische Bär» ist nie über den Bodensee geschwommen – ein versöhnliches «Tempi passati» unter die guten kalten Zeiten. Um dann, übergangslos, seinerseits aktuelle «Frontlinien» zu ziehen.
Die «Flüchtlingswelle», übernimmt er die Tsunami-Metapher für Menschen, spüle «eine unbestimmte, aber beängstigend hohe Zahl Menschen in unsere Gesellschaft …, die alles ablehnen, was deren Fundamente sind.» Damit meine er, betont Zeyer, nicht «Terroristen, Selbstmordattentäter, religiös verblendete Wahnsinnige, die sich das Recht anmassen, jeden zu töten, der nicht ‹rechten Glaubens› ist», sondern vielmehr (und explizit) die «schweigende Mehrheit von Anhängern des Islams». Die im Kalten Krieg, vermutlich, als «Systemfeinde» bezeichnet worden wären, bildeten, in der Sprache des 21. Jahrhunderts, ein «Paralleluniversum inmitten unserer Gesellschaft, das kaum überwacht, unzulänglich fichiert, aus falschem Respekt vor der Ausübung religiöser Bräuche weitgehend in Ruhe gelassen wird».
«Wehret den Anfängen»
Das war in den guten alten Zeiten des Fichenstaates noch ganz anders. Damals habe man befürchtet, notiert Zeyer, und es klingt eher spöttisch, «dass es Systemfeinden gelingen könnte, nicht zuletzt mithilfe von nützlichen Idioten wie rebellischen Studenten, die westliche Gesellschaftsordnung zu zerstören und durch die ‹Diktatur des Proletariats› zu ersetzen.» Seine «Verblendete Wehrlosigkeit» erinnert allerdings an das berühmt gewordene «Wehret den Anfängen» des damaligen NZZ-Chefs Fred Luchsinger, der in seinem berüchtigten Leitartikel am 17. Juni 1968 dem Druck der Strasse entgegenschleuderte: «Das ist eine neue Sprache in diesem Land, das ist der offene Terror einer Minderheit. Wenn man das durchgehen lässt, wenn das Schule macht, dann haben wir die Anarchie.» (*) Am 31. August 2016 warnt der Gastautor der NZZ, «dass eine Gesellschaft, die aus verblendeter Wehrlosigkeit nicht auf der unbedingten Einhaltung ihrer Grundwerte besteht, über kurz oder lang zum Untergang verurteilt ist».
Es geht hier nicht um die Frage, ob diese Grundwerte – «gleiche Rechte für Mann und Frau, Rechtsstaatlichkeit, individuelle Freiheit, Primat des demokratischen Systems vor Religion, Glaubensfreiheit für alle, die diese Grundwerte akzeptieren; Toleranz gegenüber Selbstverwirklichung nach eigener Fasson, solange das nicht andere unzumutbar einschränkt» (René Zeyer, NZZ) – verteidigt werden sollen. Das werden & müssen alle, die auf dem Boden universaler Menschenrechte stehen. Gegen fremde & allzu bekannte Fundamentalist*innen, welcher Religion & Couleur auch immer. Aber auch gegen jene, die weder Grenzen noch Hemmungen kennen und auf dem globalisierten Markt jeden (unmoralischen) Handel eingehen. Hauptsache, der Preis stimmt. Sie würden, Frauen- gleich Menschenrechte hin oder her, noch der «eigenen» Stauffacherin eine Burka kaufen & bereit legen, wenn’s den streng gläubigen Geschäftspartner nachgiebiger machte.
Die Angst vor dem Fremden verrät einen Mangel an eigener Identität
Wer jene, die im (durchaus nötigen) Kampf gegen islamistische & andere fundamentalistische Religionen beziehungsweise Ideologien auf gelebte Freiheit, Gleichheit & Brüderlichkeit (sowie Schwesterlichkeit) setzen, als «Anhänger einer Therapie- und Verständniskultur» diffamiert und ihnen «verblendete Wehrlosigkeit» unterstellt, greift zum einen auf die Kalte-Kriegs-Formel vom «nützlichen Idioten» zurück und beweist zum anderen, dass er oder sie nicht wirklich an die Kraft der so gern & oft beschworenen europäischen Werte der Aufklärung sowie der universellen Menschenrechte glaubt. Die Angst vor dem «verwesenden Kadaver, der unser Leben vergiftet» (so der von Zeyer zitierte Mustafa Kemal Atatürk über den Islam) und der arabischen Welt – die «in den wichtigsten Lebensbereichen, im Sport, in der Bildung, der Forschung, der Wirtschaft, der Innovation, der Kultur, überall am Ende der internationalen Medaillenspiegel» (Felix E. Müller, NZZ am Sonntag, 21.8.2016) figuriere – ist offensichtlich so gross, dass immer breitere Kreise ernsthaft zu glauben beginnen, Freiheit & Toleranz seien nur noch durch ihre Einschränkung qua Fichen & Verbote – «kaum überwacht, unzulänglich fichiert», kritisiert René Zeyer – zu verteidigen. Das ist ein schlechtes Zeichen für unsere kulturelle Identität sowie unseren gesellschaftlichen Grundwertekonsens.
(*) Zitiert aus: Tobias Kästli: Mehr satisfaction – statt Ruhe und Ordnung, Berner Tagwacht, 20.6.1988
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
die rechts-links denkweise wurde in uns eingetrichtert: spalte und herrsche.
von links bis rechts ist man für zerstörerisches bip-wachstum… da gibts also keinen unterschied! es gibt ‹grüne› für krieg (in brd) und es gibt ‹rechte› gegen die nato*-mitgliedschaft der neutralen?? schweiz.
die wahrheitssuche ist für mich DER weg. weniger gewalt ist DER weg. also NEIN zur aggressiven nato (osterweiterung, umzinglung von russland). ob ich deswegen naiv, rechts, links, rot oder gelb bin, lenkt nur vom wichtigen thema ab, ob wir mehr oder weniger lebensqualität wollen: beim krieg verlieren alle – auch banker und kriegsmaterial-produzenten in bezug auf lebensqualität von sich und ihren kindern.
* «partnerschaft für frieden» heisst die schweizerische nato-mitgliedschaft. schöne worte – sie könnten im buch «1984» von george orwell stehen.
René Zeyer
Basler Zeitung
Schweiz
Ein Drecksbuch
Sehr Aufschlussreich wie Herr Rene Zeyer kommuniziert.
Eine Schande das die Basler Zeitung solch eine Platzform bietet.
Ich bin fassungslos, was da ab geht, schaut doch bitte mal selber nach.
In Respekt und im Friden Hanspeter Eckart