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Bürgerprotest gegen die Schliessung des unabhängigen Fernsehsenders TV2 in Tomsk © TV2

Der kritische Journalismus ist nicht tot

Roman Berger /  360 Journalisten sind in Russland seit 1990 ums Leben gekommen. Sie haben Missstände aufgedeckt oder waren zu kritisch.

Es wurde ruhig im Moskauer «Haus der Journalisten», als die Teilnehmer einer internationalen Medienkonferenz ihrer getöteten russischen KollegInnen gedachten. An der jedes Jahr abgehaltenen Gedenkfeier anwesend waren auch zahlreiche Verwandte der ermordeten Journalisten. Deren Portraits sind als Fotogalerie ausgestellt. Darunter auch die im Ausland bekannte Anna Polytkowskaya, die für die Zeitung «Novaya Gazeta» über die Tschetschenienkriege berichtet hatte und am 7. Oktober 2006 in Moskau erschossen wurde. Polytkowskayas Killer wurden verurteilt, ihre Auftraggeber blieben bis heute straflos.

Wichtige Informationsquellen

Im Ausland kaum bekannt sind zahlreiche JournalistInnen, die in der russischen Provinz ihr Leben lassen mussten. Sie haben korrupten Bürokraten und Clans auf die Finger geschaut oder waren einfach unbequem. Davon profitierten auch wir Auslandskorrespondenten. Bei Reportagenreisen gehörte der Besuch auf der Redaktion der lokalen Zeitung zum Pflichtprogramm. Wer ist besser informiert als die ortsansässigen Journalisten?
Es ist leicht, russische Journalisten wegen Unterwürfigkeit oder Selbstzensur zu kritisieren. Auslandskorrespondenten kommen und gehen. Russische Journalisten hingegen bleiben. Sie müssen ihre Familien ernähren, haben Angst, ihren Job oder gar ihr Leben zu verlieren, wenn sie mit ihren Recherchen zu weit gehen.

Hoffnungen auf Digital-Journalismus

Solche Erinnerungen beschäftigten mich an einer Medienkonferenz in Moskau zum Thema: «Gefahren und Möglichkeiten für regionale Medien im Digitalzeitalter». Auch dem russischen Journalismus machen sinkende Auflagenzahlen, immer weniger Werbung und Konkurrenz durch neue Medien zu schaffen. Dazu kommen staatliche Versuche, das Internet zu kontrollieren.
Aber die Digitalisierung eröffnet auch Chancen. «Gerade auf Facebook und Twitter sind kritische Journalisten sehr aktiv», berichtet Galina Arapova, die als Juristin für Medienrecht ein in ganz Russland beachtetes Beratungszentrum in der Stadt Woronesch aufgebaut hat. Über die sozialen Medien gebe es auch Content-Kooperationen. Dank digitalisierten Newsrooms existiere heute die Möglichkeit, über Ländergrenzen hinweg zusammenzuarbeiten.

Populärer Fernsehsender TV2 geschlossen…

Vom Ausland kaum beachtet war bis vor kurzem der regionale Fernsehsender TV2 in der sibirischen Stadt Tomsk. Während mehr als 20 Jahren galt er als ein Garant für unabhängigen Journalismus und wurde deswegen manchen Leuten ein Dorn im Auge, unter anderem dem Gouverneur von Tomsk. Davon berichtete an der Konferenz in Moskau der Chefredaktor von TV2, Viktor Muchnik. Auch Demonstrationen zur Unterstützung des populären TV-Senders konnten nicht verhindern, dass TV2 von der staatlichen Medienaufsicht Roskomnadsor Anfang 2015 geschlossen wurde.

…und wieder in Betrieb

Muchnik aber gab nicht auf und klagte vor Gericht für eine neue Lizenz. Ein in Moskau ansässiges Schiedsgericht befand nach mehreren, von Roskomnadsor erzwungenen Verschiebungen, die Schliessung des Senders sei illegal. Das Gericht zwang die Aufsichtsbehörde, die Lizenz zu verlängern. Dieses Urteil erfolgte am 20. Dezember, wenige Tage nach dem Ende der Konferenz in Moskau. Der Erfolg für TV2 ist zweifellos auch ein Beweis dafür, dass in Russland die Gewaltentrennung in gewissen Fällen trotz allem funktioniert.
An der von der Europäischen Föderation der Journalisten (EFJ) und der Russischen Journalistengewerkschaft (RUJ) organisierten Konferenz in Moskau gab auch eine kürzlich vom Europaparlament angenommene umstrittene Resolution zu reden. Sie hat sich auch mit der Mediensituation in Russland befasst. Die Resolution verurteilte «gegen die EU gerichtete russische Propaganda» und rief die EU-Mitgliedstaaten auf, «Projekte der Gegenpropaganda» zu unterstützen.

«Rückfall in den Kalten Krieg»

Die EFJ ihrerseits kritisierte den Resolutionstext als «Rückfall in den Kalten Krieg». Es sei unverantwortlich, russische Medienorganisationen auf die gleiche Stufe wie Terrorgruppen oder den Islamischen Staat zu stellen. Es sei falsch, wenn man glaube, auf russische Propaganda könne mit Gegenpropaganda reagiert werden.
Die EFJ hielt weiter fest, im Resolutionstext werde erwähnt, dass zur Zeit in Russland, in der EU und im übrigen Europa insgesamt 127 Journalisten inhaftiert seien, ohne die Türkei zu nennen. Fakt sei, so die EFJ, dass in Russland zur Zeit ein Journalist im Gefängnis sitze, während 121 in der Türkei hinter Gitter seien. Die Verfasser der Resolution, so mahnt die EFJ, hätten es unterlassen, sich von der wichtigsten Journalisten-Organisation in Europa beraten zu lassen.
Klartext sprach die Vize-Präsidentin der EFJ und Mitglied der Russischen Journalisten Gewerkschaft, Nadezda Azhgikhina: «Ich bin zur Zeit des Kalten Krieges aufgewachsen. Damals versuchten Journalisten aus Ost und West zusammenzuarbeiten für eine Zukunft ohne Zensur, Hass und Stereotypen. Wir verstanden, wir kommen von verschiedenen Kulturen, aber wir glaubten an den Journalismus als ein öffentliches Gut. Heute versuchen viele Entscheidungsträger, die Medien als politische Instrumente zu benützen. Der einzige Weg, um Hass und Medienmissbrauch zu überwinden, ist die Förderung von Qualität und verantwortungsvollem Journalismus.»

Wo sich die EU nicht an Sanktionen hält

Die Konferenz in Moskau war das vierte Treffen im Rahmen einer Reihe, die von der EU initiiert und finanziert wurde mit dem Ziel, den Dialog zwischen Journalisten in der EU und Russland zu fördern. Die erste Tagung fand in London statt, gefolgt von weiteren Treffen in St.Petersburg und Brüssel. Treibende Kraft dieser Konferenzen war der in Moskau akkreditierte EU-Botschafter Vygaudas Usackas. Bekannte des Diplomaten machen auf seine Herkunft aufmerksam. Vygaudas Usackas stammt aus einer litauischen Familie, die unter Stalin nach Westsibirien (Altai) verbannt wurde. Trotz dieser leidvollen Erfahrung sei er ein Freund Russlands geblieben, gibt ein Beobachter zu verstehen. Es sei ihm ein wichtiges Anliegen, gerade in diesen schwierigen Zeiten, Kontakte in Russland und dem Westen aufrecht zu erhalten.
Auf der grossen politischen Bühne in Brüssel oder Washington ist die Rede, die Sanktionen gegen Russland müssten beibehalten oder gar verschärft werden. Vielleicht wird man sich einmal an Diplomaten wie Vygaudas Usackas erinnern, die trotz Sanktionen den Dialog zwischen Journalisten in Ost und West gefördert und damit einen neuen Kalten Krieg verhindert haben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Roman Berger war 1991–2001 Moskau-Korrespondent des «Tages Anzeiger».

Zum Infosperber-Dossier:

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Medien unter Druck

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Eine Meinung zu

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 4.01.2017 um 12:26 Uhr
    Permalink

    Was Roman Berger hier schreibt, ein für mich auch aus persönlichen Gründen in jeder Hinsicht vertrauenswürdiger Publizist, wie Ruoff und Schlienger Alt-Engelberger, gibt mir über mein von Tolstois «Sebastopoler Erzählungen» mitgeprägtes Russlandbild hinaus abermals echt zu denken. Ich nehme auch die jeweils kritischen Anmerkungen meiner klugen ehemaligen Schülerin Zita Affentranger sehr ernst. Was ich mir noch von guten Mitarbeitern von Infosperber wünschen würde, wäre, dass Peter Achten nach der Pensionierung noch eine Spur kritischer über China schreiben könnte. Es ist ja auch für einen eher linksorientierten Publizisten nicht mehr vordringlich, mit kritischer Schonung über China zu schreiben, abgesehen davon, ob links, rechts oder in der Mitte: guter Journalismus hängt nicht vom Meinungsausgangspunkt ab. Die Faktenorientierung von Gasche finde ich nach wie vor preiswürdig. Von ihm ist es deshalb zu respektieren, wenn er Foristen dann und wann mal bei Übereifer abmahnt, was mir auch schon widerfahren ist und ich ihm im Einzelfall recht geben musste.

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