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In den USA sind 46 Millionen Einwohner auf staatliche Lebensmittelhilfe angewiesen. © foodsecuritychallenge

Was die tollen Wachstumszahlen vernebeln (2)

upg /  Wirtschaftswachstum bringe Wohlstand, finanziere Renten und schaffe Arbeit. Doch das Super-Wachstumsland USA beweist das Gegenteil.

Falls Wirtschaftswachstum wirklich Armut und Hunger beseitigt, Renten sichert, genügend Erwerbsarbeit schafft sowie die nötigen Mittel für den Umweltschutz und die Gesundheitsversorgung bereitstellt, würden wir längst im Paradies leben. Dies gilt ganz besonders für die USA, deren Bevölkerung es mit Abstand am besten gehen müsste. Siehe die langjährigen US-Wachstumszahlen im Teil 1 «Im Namen des heiligen Wachstums».
Die Realität ist mehr als ernüchternd. Sie zeigt, dass in den entwickelten Industriestaaten das Wachstum des Bruttoinlandprodukts BIP untauglich ist, um den allgemeinen Wohlstand, geschweige denn Glück und Lebensqualität zu messen.
Ökonomen, Politiker und Medien sollten aufhören, uns mit guten oder schlechten Wachstumszahlen zu betäuben und den Wachstumszielen alles unterzuordnen: die Steuer- und Sozialpolitik, die Umweltpolitik, das Ausrichten von Subventionen, ja, sogar demokratische Rechte. Immer wieder werden vernünftige, auch gesellschaftspolitisch innovative Vorschläge abgeblockt mit dem Argument, sie würden dem Wirtschaftsstandort und dem Wachstum schaden.
Die entwickelten Industriestaaten sollten die Vorstellung begraben, dass 2 Prozent Wachstum besser sei als 1 Prozent oder als 0 Prozent.

Die Resultate der Wachstumspolitik in den USA

Mit Ausnahme der Ölstaaten sind die USA das reichste Land der Welt mit dem höchsten Einkommen oder BIP pro Kopf. Doch bei etlichen Indikatoren, die den Zustand einer Gesellschaft und die Lebensqualität der Bevölkerung angeben, sind die USA alles andere als spitze:

  • Kindersterblichkeit: Auf der Weltrangliste der Kindersterblichkeit figurieren die USA auf dem 56. Rang. In den USA sterben 6 von 1000 Kindern im ersten Lebensjahr. Das sind doppelt so viele wie in Finnland und andern skandinavischen Ländern. Quelle: «National Research Council» und «Institute of Medecine»; Alice Chen et al. «Why is Infant Mortality Higher in the US than in Europe?», 2014.
  • Lebenserwartung von neugeborenen Mädchen: Vor 35 Jahren hatten die Mädchen in den USA unter sämtlichen Ländern die höchste Lebenserwartung. Heute sind die USA unter 34 Industrieländern auf den 13. Rang abgerutscht. Quelle: OECD.
  • Kinder, die mit nur einem Elternteil aufwachsen: Jedes vierte Kind wohnt bei einer alleinerziehenden Mutter (selten Vater). Das ist mit Abstand der grösste Anteil von Alleinerziehenden unter allen Industriestaaten. Quelle: OECD.
  • Kinderarmut: Über 20 Prozent aller Kinder leben in Armut. Damit liegen die USA auf dem 28. Rang von 34 Industriestaaten. Quelle: OECD. Über 2,5 Millionen Kinder leben in 1,4 Millionen Haushalten mit einem Tageseinkommen von unter 2 Dollar. Das ist die Elendsgrenze in Indien. Und es sind doppelt so viele wie noch 1996. Quelle: United States Department of Agriculture USDA.
  • Schwangerschaften von Teenagern: Sie kommen zehnmal häufiger als in Frankreich vor. Quelle: OECD.
  • Armut: Jeder siebte US-Amerikaner lebt von staatlichen Lebensmittelmarken (Food Stamps). Das sind 46 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Die meisten von ihnen leben in den Südstaaten. Quelle: United States Department of Agriculture USDA.
  • Erwachsene im Gefängnis: Sieben von tausend Erwachsenen der USA leben in einem (häufig kommerziell geführten) Gefängnis. Das sind mehr als fünfmal so viele wie in den meisten andern Industriestaaten. Auch bei der Rückfallquote verzeichnen die USA einen Rekord: Die Hälfte der entlassenen Häftlinge landen innert drei Jahren wieder in einem Gefängnis. Quelle: «Bureau of Justice Statistics».
  • Staatsschulden: Ende 2014 erreichten die Brutto-Staatsschulden 105% des US-Bruttoinlandprodukts BIP. Das waren mehr als in Grossbritannien (86%) und mehr als im Durchschnitt der Euro-Länder (94%). Quelle: IWF. Die gesetzliche Schuldenobergrenze wurde jedes Jahr erhöht. Die Schulden der Privathaushalte nahmen von 95% auf 77% des BIP ab, weil sich die Haushalte weniger Hypotheken leisten können. Quelle: BIZ, FRBNY (Federal Reserve Bank of New York).
  • Arbeitslose: Die Arbeitslosigkeit in den USA betrug Ende 2014 nach offizieller Statistik 5,6 Prozent. Nicht mitgerechnet sind allerdings Arbeitnehmende, die während längerer Zeit keine Arbeit gefunden haben und keinen Anspruch mehr haben auf staatliche Leistungen.* Diese sind jedoch in einer parallel berechneten Arbeitslosenquote des «Bureau of Labor Statistics» dabei. Nach dieser «U3»-Statistik gab es Ende 2014 in den USA 11,2 Prozent Arbeitslose. Quelle: «U.S. Bureau of Labor Statistics» (Agentur für Arbeitmarkt-Statistik).
  • Ökologischer Fussabdruck: Mit Ausnahme der Golfstaaten ist der Pro-Kopf-Verbrauch von Ressourcen in den USA weltweit am grössten. Würden alle Menschen so leben wie die US-Amerikaner, bräuchte es vier Planeten wie die Erde. Quelle: Global Footprint Networks.
  • Selbsteinschätzung als «glücklich» und «zufrieden»: Obwohl das Pro-Kopf-Einkommen der US-Amerikaner fast 15 Prozent höher ist als in der Schweiz und in Norwegen und über 20 Prozent höher als in Kanada, den Niederlanden oder in Dänemark, erklären sich weniger US-Amerikanerinnen und -Amerikaner als «glücklich» und «zufrieden». (Quelle: Richard Layard/NZZaS vom 13.4.2014)

Exzessive Ungleichheit als Hauptursache

In den Industriestaaten ist es offensichtlich verkehrt, fast alle politischen Entscheide dem Wirtschaftswachstum unterzuordnen. Auf keinen Fall darf Wirtschaftswachstum dazu führen, dass Einkommen und Vermögen so ungleich verteilt werden wie in den USA. Denn die «exzessive Ungleichheit» mit einer breiten, finanzschwachen Unterschicht sei in den USA der Hauptgrund für die hohe Kindersterblichkeit, für die vielen Teenager-Schwangerschaften, für den hohen Anteil der Alleinerziehenden sowie für das eigene Befinden, nicht glücklich und zufrieden zu sein. Zu diesem Schluss kam ein Forschungsteam der «University of Chicago», des «Massachusetts Institutes of Technology» und der «University of Southern California».
Studie: Warum ist die Kindersterblichkeit in den USA so hoch?

Von der hohen Kindersterblichkeit beispielsweise seien in erster Linie Babys von schwarzen sowie aus Mittel- und Südamerika stammenden, nicht verheirateten, wenig gebildeten und armen Müttern betroffen. Babys von reichen, gebildeten Müttern dagegen hätten in den USA die gleichen Überlebenschancen wie die Kinder privilegierter Mütter in Europa.

Die USA seien zwar immer noch die grösste Militärmacht und verfügten über die modernsten Technologien der Welt, schrieb Ende April Eduardo Porter, Wirtschaftskolumnist der «New York Times». Doch
«wenn es um die Gesundheit geht, um das allgemeine Wohlbefinden und um die gemeinsame Teilhabe an den materiellen Gütern, sind die USA weit zurück gefallen
Während des kommenden Wahlkampfs sollten nach Ansicht Porters Fragen wie die krasse Ungleichheit, Mindestlöhne, der andauernde Streit um die Krankenversicherung für alle sowie die überfüllten Gefängnisse im Vordergrund der Debatten stehen.

«Radikaler Kurswechsel nötig»

Der Ökonom und Glücksforscher Richard Layard, früher Professor an der London School of Economics, fordert einen radikalen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik: Staaten sollten nicht versuchen, das Wachstum zu steigern, sondern das Glück ihrer Bürger.

Ziel des Wirtschaftens sei nicht, möglichst grossen Reichtum anzuhäufen, sondern dass

  • sich möglichst viele Menschen zufrieden und glücklich fühlen;
  • möglichst wenig Armut und Elend herrscht.


Um mit seinem Leben zufrieden und glücklich sein zu können, seien einige externe und einige interne Faktoren entscheidend:

  • Externe Faktoren: 1. Persönliche Beziehungen und Freundschaften. 2. Das Klima am Arbeitsplatz. 3. Kontakte beim Einkaufen und in der Freizeit. 4. Das Gefühl, andern Menschen vertrauen zu können. 5. Das Gefühl, in einer gerechten Gesellschaft zu leben und mitbestimmen zu können.
  • Interne Faktoren: Gesundheit, speziell geistige Gesundheit. Keine Angstzustände, Depressionen oder Demenz.

Zum Gefühl, zufrieden und glücklich zu sein, trage in reichen Ländern die Höhe der Einkommen nur wenig bei, konstatiert Glücksforscher Richard Layard.
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*Original-Erläuterungstext des «U.S. Bureau of Labor Statistics» zu den Arbeitslosen, welche die offiziellen Statistik nicht berücksichtigt:
«Persons marginally attached to the labor force are those who currently are neither working nor looking for work but indicate that they want and are available for a job and have looked for work sometime in the past 12 months. Discouraged workers, a subset of the marginally attached, have given a job-market related reason for not currently looking for work. Persons employed part time for economic reasons are those who want and are available for full-time work but have had to settle for a part-time schedule. Updated population controls are introduced annually with the release of January data.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Urs P. Gasche hat zusammen mit Hanspeter Guggenbühl das Buch «Schluss mit dem Wachstumswahn – Plädoyer für eine Umkehr» veröffentlicht.

Zum Infosperber-Dossier:

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Führt Wachstum zu Glück oder Crash?

Geht uns die Arbeit aus, wenn wir nicht ständig mehr konsumieren? Oder sind die Renten in Gefahr?

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