Experiment beweist: 6-Stunden-Tag kann sich lohnen
«Ein glücklicher Angestellter ist ein besserer Angestellter», sagt Arturo Perez. Und Arturo Perez ist glücklich. Sein Arbeitgeber, das Altersheim «Svartedalens» in Göteborg, ebenfalls. Die Klienten finden, die Qualität der Pflege habe sich verbessert. Und das, obwohl der alleinerziehende Vater von drei Kindern seit einiger Zeit weniger arbeitet. Oder gerade deshalb.
Das Alters- und Pflegeheim «Svartedalens» nimmt seit Februar 2015 an einem Versuch zur Zukunft der Arbeit teil. Der Arbeitstag der Pflegekräfte wurde dabei von acht auf sechs Stunden gekürzt – bei vollem Lohnausgleich. Was klingt wie eine zwar angenehme, aber unvermeidliche Kostenfalle, hat sich für das Altersheim ausgezahlt.
Höhere Produktivität durch weniger Arbeit
Ein Audit des Programms, das im April 2016 publiziert wurde, stellte fest, dass
- sich Arbeitsausfälle drastisch reduziert haben,
- die Produktivität gestiegen ist und
- es zu weniger Arbeitsausfällen wegen Krankheit gekommen ist,
berichtet die «New York Times». Krankheitsbedingte Abwesenheiten würden nur noch die Hälfte des Göteborger Durchschnitts betragen, schreibt das englischsprachige schwedische Portal «The Local».
Das sozialpolitisch vorbildliche Schweden ist bekannt für Experimente dieser Art. Teilweise aus ideologischen Gründen: Man ist sich einig, dass es für alle von Vorteil ist, Arbeitskräfte gut zu behandeln. In Sachen Work-Life-Balance, Kinderbetreuung, Elternurlaub und Flexibilisierung der Arbeitszeiten ist das nordeuropäische Land führend.
Das Familienleben profitiert
Erwartet hätte man einen solchen Versuch eher in einem Startup-Unternehmen. Viel zu flexibilisieren gibt es in der Pflege nicht. Dort gelten fixe Schichtarbeitszeiten, oft bei Eins-zu-Eins-Betreuung. Was ein Alters- und Pflegeheim zu einem unpassenden Experimentierfeld macht.
Ein 8-Stunden-Tag in der Betreuung von dementen und gebrechlichen Personen ist anspruchsvolle Arbeit. «Früher bin ich auf dem Sofa zusammengeklappt, wenn ich von der Arbeit kam», sagte Lise-Lotte Pettersson, eine Assistenzschwester, die in «Svartedalens» arbeitet, gegenüber dem «Guardian». Auch Perez fühlt sich weniger ausgelaugt und sagt, sein Familienleben habe sich verbessert.
Der 6-Stunden-Tag ist auch in anderen Branchen erfolgreich
«Svartedalens» ist nicht das einzige Beispiel für den Erfolg des 6-Stunden-Tags. Dieselben Erfahrungen machten auch ein schwedisches Internet-Start-Up und eine Toyota-Servicewerkstatt, die anderen Branchen angehören. Schwedens grosse Unternehmen halten sich mit der Arbeitszeitverkürzung bisher zurück.
Ausschlaggebend zu sein scheint die Grösse der Organisation jedoch nicht. Eines der grössten europäischen Spitäler, das Sahlgrenska Universitätsspital in Göteborg, hat im vergangenen Jahr das verkürzte Arbeitszeitmodell getestet. Für 123‘000 Franken pro Monat setzte das Spital die 89 Ärzte und Schwestern der Orthopädie auf Sechs-Stunden-Diät, erweiterte die OP-Zeiten und stellte 15 neue Kräfte ein.
Universitätsspital Sahlgrenska
«Ich denke, wir sollten die 40-Stunden-Woche hinterfragen»
Seither, sagt Spital-Geschäftsführer Anders Hyltander, melde sich quasi niemand mehr krank und die Effizienz sei gestiegen. Die Einheit führe nun 20 Prozent mehr Operationen durch, die Wartezeiten auf einen OP-Platz hätten sich «von Monaten auf Wochen» reduziert. Was sich, gibt Hyltander zu bedenken, auch positiv auf die Gesamtwirtschaft auswirken dürfte, da die Patienten so schneller wieder gesund und arbeitsfähig sind.
«Jahrelang wurde uns gesagt, dass die 40-Stunden-Woche optimal sei», sagt Hyltander. «Ich denke, wir sollten das hinterfragen». Nicht nur deshalb, weil in Zukunft vielleicht die Arbeit ausgeht. «Nach 40 Jahren mit der 40-Stundenwoche haben wir eine Gesellschaft mit mehr Kranken und Frühruhestand», sagt auch der Göteborger Politiker Daniel Benmar, der das Programm unterstützt. Benmar ist Vorsitzender der Linkspartei im Göteborger Stadtrat.
«Zu teuer», sagen die Gegner
Ganz anders sieht das seine Amtskollegin und stellvertretende Bürgermeisterin von Göteborg, Maria Rydén, die der Oppositionspartei «Moderaterna» angehört. «Dieses Wirtschaftsverständnis hat andere europäische Länder in Schwierigkeiten gebracht», argumentiert sie. Das Experiment koste den Steuerzahler zu viel Geld. Zudem mische sich der Staat zu sehr in die Wirtschaft ein.
Welche Auswirkungen ein 6-Stunden-Tag wirklich hat, sollte er flächendeckend eingeführt werden, ist schwer einzuschätzen. Schwedische Arbeitskräfte arbeiten im europäischen Vergleich wenig. Nur ein Prozent aller Angestellten arbeitet nach Angaben der OECD mehr als 50 Stunden in der Woche. Im OECD-Durchschnitt sind es 13 Prozent. Dennoch war die Jahresarbeitszeit 2014 laut OECD in Schweden pro Kopf höher als in der Schweiz, wo offiziell die 42-Stunden-Woche gilt.
Interaktives Diagramm über die jährliche Arbeitszeit in den Ländern der OECD. Farbig markiert sind Deutschland (blau), Frankreich (violett), Schweden (grün), Griechenland (orange) und die Schweiz (rot) sowie der OECD-Durchschnitt (schwarz) und die USA (gelb). Oben rechts vergrössern, um die einzelnen Länder besser anzuklicken.
In Frankreich sowie in einigen deutschen Industriezweigen ist man bereits bei der 35-Stunden-Woche angekommen. Wobei in Frankreich, schreibt die «New York Times», das Gesetz bereits so durchlöchert sei, dass für einen Angestellten faktisch die 40-Stunden-Woche gelte. In Deutschland arbeitet man laut OECD auf das Jahr gesehen tatsächlich am wenigsten, im europäischen Vergleich in Griechenland am meisten. Als Messgrösse für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit taugt die tägliche Arbeitszeit also nur bedingt.
Abgelehnt – von denen, die nicht Teil des Programms waren
«Wir können nicht Leute dafür bezahlen, nicht zu arbeiten», das ist Rydéns Position. Eine von ihrer Mitte-Rechts-Partei geführte Kampagne, den bis Ende des Jahres angesetzten Versuch vorzeitig zu beenden, scheiterte im Mai.
Immer mehr schwedische Unternehmen interessieren sich für das Modell. Die nordschwedische Stadt Kiruna hingegen schaffte den 6-Stunden-Tag kürzlich wieder ab – nachdem er für 250 öffentlich Angestellte 16 Jahre lang gegolten hatte. Die Stadt begründete das mit hohen Kosten und Ablehnung durch Arbeiter, die nicht Teil des Programms waren.
Arturo Perez hofft, dass ihm das nicht passiert. Das finden auch seine Klienten. «Sie sind glücklicher und wir sind glücklicher», sagte Ingrid Karlson, eine 90-jährige Bewohnerin des Heims, der «New York Times».
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Diesen Beitrag hat Daniela Gschweng aufgrund eines Berichtes der «New York Times» und anderer Quellen erstellt. Grosse Medien in der Schweiz haben bisher nicht darüber berichtet
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
War das Redaktionsteam von Infosperber schon mal in Schweden? Ja, die Schweden haben ein schönes Land, vorausgesetzt, das Wetter stimmt. Allerdings lassen sich die Schweden nicht aus der Ruhe bringen und bevor am Morgen mit der Arbeit begonnen werden kann, beide Elternteile arbeiten, müssen zuerst noch die Kinder in der KITA und der Hund in der Spielgruppe versorgt werden. Dann kann mann schliesslich um 10:00 Uhr mit der Arbeit beginnen und am Nachmittag muss man sich wohl bereits um 16:00 Uhr wieder mit dem Abholprogramm gemäss beschriebenem Muster beschäftigen……
Natürlich, das System funktioniert und das ganze ohne Stress. Tatsache ist allerdings, dass bevölkerungsmässig doch noch einiges kleinere Schweiz ein höheres BIP als Schweden bewerkstelligt. Wohlstand ist nicht umsonst zu haben! Das merken nun auch die Sozialisten in Schweden, sie verlieren Wähleranteile, wie auch die Sozialisten in anderen europäischen Ländern.
Ein interessantes Modell. Von Ferne aber schwer zu beurteilen. Schweden gehört immerhin zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Insofern mit der Schweiz sehr gut vergleichbar. Auch das BIP ist etwa vergleichbar hoch, auch pro Person. Schweden ist aber flächenmässig viel grösser (CH ca. 200 Leute pro Quadrat-Km, S etwas über 20 . . . !), was auch kostet. Das wohlfahrtsstaatliche Vorbild würde ich nicht herabmindern im Gegenteil: Die sinkenden Wähleranteile der sozialdemokratischen Linken kann europaweit eher mit deren neoliberalen «Reformprogrammen» um die Jahrtausendwende als mit Lösungsvorschlägen wie hier beschrieben erklärt werden.