Kommentar

Prominente Panik-Mache zum Thema Zuwanderung

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  Der Chefredaktor der Sonntagszeitung «Der Sonntag» empfiehlt der Politik, das Thema «Zuwanderung» zur Top-Priorität zu machen.

Seltsam: Anfang Woche fand das anderthalbtägige «Europa Forum Luzern» zum Thema Zuwanderung statt. Über 330 Fachleute aus Politik und Wirtschaft des In- und Auslandes kamen nach Luzern, um sich Informationen aus erster Hand zum Thema Zuwanderung zu «holen». Zahlreiche Vertreter der Migrationsbehörden in Bund und Kantonen, der Polizei, der Armee, der Unternehmer-Verbände, der grossen internationalen Konzerne, der Gewerkschaften, der in Genf ansässigen internationalen Organisationen, aber auch viele persönlich interessierte Unternehmer und Personalverantwortliche, hatten eine hervorragende Gelegenheit, neuste Zahlen zu vernehmen und sich Erfahrungen der Involvierten und Betroffenen anzuhören und sich gegenseitig auszutauschen.

Ein Thema auch für die Medien

Anwesend waren auch über 30 Vertreter der Medien-Welt. Das Schweizer Radio und das Schweizer Fernsehen waren da, aber auch ARD und ORF. Bei den Zeitungen alle, die Rang und Namen haben. Und natürlich die Nachrichtenagenturen, von der Schweizerischen Depeschenagentur bis zur Kuweit News Agency. Alle kamen, um zu einem brennenden Thema von allen Seiten Neues zu erfahren und vom Gehörten und Gezeigten zu lernen.

Nicht anwesend in Luzern war die «Aargauer Zeitung» und der dazugehörende «Sonntag». Dafür plädiert nun der Chefredaktor des «Sonntag» dafür, «das Thema zur Top-Priorität zu machen». «Es bleibt keine andere Wahl, als die Zuwanderung zu drosseln», schreibt Patrik Müller wörtlich. Unsere Politiker sollten «bessere Lösungen erarbeiten, wie wir das Wachstum steuern können – ohne das Verhälnis zur EU zu riskieren.» (Da ist, mit Verlaub, sogar Schmunzeln angesagt. «Zwei haben immer ein Verhältnis», pflegte mein Mathematik-Professor «Baba Dünki» am Gymnasium in Aarau zu sagen…)

Fast 3 Prozent der Weltbevölkerung sind auf der Migration

Weltweit sind nach übereinstimmenden Schätzungen 214 Millionen Menschen am «Wandern»: Das entspricht der Einwohnerschaft Indonesiens, des viertgrössten Landes der Welt. Jeder 35 Mensch sucht in einem anderen Land eine sicherere Bleibe. Zum kleineren Teil sind das Flüchtlinge, zum viel grösseren Teil sind das Arbeitsuchende. In Anbetracht von über einer Milliarde Menschen weltweit, die in absoluter Armut leben und Hunger haben, sind die 214 Millionen vielleicht nicht einmal eine so grosse Zahl. Und auf Europa und die Schweiz entfällt davon eh nur ein Bruchteil.

Die Migration ist eine Realität

Das Phänomen Migration gibt es schon seit Tausenden von Jahren, es hat es immer gegeben und es wird es immer geben. «The migration is a reality.» In diesem Punkt herrschte in Luzern unter allen 30 Referenten Einigkeit. Die Frage ist nicht, wie wir die Migration stoppen können. Die Frage ist eine andere: Wie gehen wir damit um?

Das Grundproblem ist: Migration ist ein transnationales Phänomen, es betrifft alle Länder der Erde und – zumindest bei uns in Europa – auch alle unsere Einwohner, direkt oder indirekt. Aber wie diskutieren wir dieses Phänomen und seine problematischen Auswirkungen? Wir tun es auf nationalstaatlicher Ebene! Das ist, bildhaft gesprochen, etwa so: In einem riesigen Wolkenkratzer in New York macht die Zentralheizung Probleme. Im 37 Stockwerk, auf der Fensterseite gegen Osten, gibt es ein kleines Büro. Der dort sitzende Buchhalter fordert seine Sekretärin auf, den Tauchsieder zu suchen, den sie irgendwo haben. Sie könnten damit, meint der Buchhalter, das zu kalte Wasser in den Radiatoren aufheizen, damit sie im Büro wieder warm haben…

Der Nationalstaat hat ausgedient

Die Schweizerinnen und Schweizer müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass sie Teil Europas sind. Und die Europäer müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass sie Teil dieser Welt sind. Die Idee des «Nationalstaates» entwickelte sich im 18. und 19. Jahrhundert und war erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur (vermeintlichen) Selbstverständlichkeit geworden. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts aber wissen wir wieder, dass die Organisation der Welt in (vermeintlich) souveräne Nationalstaaten auch keine abschliessende Weisheit ist. Und heute wird in Anbetracht der immer grösseren transnationalen Probleme (Wirtschaftskrisen, Währungskrisen, Klimawandel, Energiebeschaffung, nukleare Bedrohung, Epidemien, Migration, etc etc) immer deutlicher, dass der Nationalstaat als (vermeintlich) souveräne Institution bereits wieder ausgedient hat.

Zum Sonntag ein bisschen Panik

Die Zuwanderung drosseln (Titel des Kommentars im «Sonntag»): Ja, wir können die Zoll-Barrieren schliessen und das Militär an die Grenze stellen. Das ganze wird allerdings nur ein paar Tage andauern, nämlich genau so lang, bis – als sogenannte Retorsionsmassnahme – das restliche Europa die Grenzen für unsere Exportwirtschaft und für die Zufuhr von Öl und Gas schliesst. Und dann geht es ganz schnell, nur noch ein paar Wochen oder höchstens Monate, bis wir offizielles Mitglied der EU sind, ohne auch nur haben mitreden zu können. Wie sehr wir erpressbar geworden sind, wissen wir zwischenzeitlich, sogar ziemlich genau.

Aber klar: In der Zeitung ist es attraktiver, in Panik zu machen. Da gibt es auch am nächsten Sonntag wieder was zu berichten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor hat Migrationshintergrund. Seine Vorfahren mütterlicherseits waren in die Schweiz geflüchtete Hugenotten. Heute ist er Präsident der Schweizer Sektion des "World Federalist Movement".

Zum Infosperber-Dossier:

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Die EU und die Schweiz

Europa ist für die Schweiz lebenswichtig. Welchen Grad an Unabhängigkeit kann die Schweiz bewahren?

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Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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5 Meinungen

  • am 30.04.2012 um 12:02 Uhr
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    Man kann die Zuwanderung schon zum politischen Thema machen, es interessiert viele Leute. Aber man kann sich doch als grosse Zeitung nicht einfach an Schmalspurpolitiker wie Ricklis ranhängen, die keinerlei Antworten haben und die auch NULL AUSLANdERFAHRNG mitbringen – was bei diesem Thema Voraussetzung ist. Aber da unterscheiden sie sich nicht von Schweizer Chefredaktoren, die in der Regel die Stadtgrenzen von Zürich ihr gesamtes Berufsleben nicht überschreiten, es sei denn, zu bezahlten und geführten Reisen. Daher kommt auch die bedrückende Beschränktheit dieser «Einwandererdebatte".

  • INFOsperberIcon200px
    am 30.04.2012 um 12:17 Uhr
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    Ich bin natürlich Partei als Sonntag-Redaktor. Man kann die Position haben wie Christian Müller, dass Migration nicht zu steuern ist und das Ende der Nationalstaaten nur noch eine Frage der Zeit ist. Der Kern dessen, was Patrik Müller schrieb, geht aber meines Erachtens in eine andere Richtung und orientiert sich an der aktuellen Polemik um die Deutschen und den Unmut über das Bevölkerungswachstum. Er weist darauf hin, dass nicht einzelne Personen oder Nationalitäten verantwortlich gemacht werden dürfen für das rasante Bevölkerungswachstum, sondern dass der Staat die Verantwortung hat, die Zuwanderung so zu lenken, dass nicht Fremdenfeindlichkeit entsteht. Ich halte das für einen sehr wichtigen Punkt.

  • am 30.04.2012 um 13:19 Uhr
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    @) ja, Christof Moser, aber Patrik Müller neigt eben auch dazu, auf jeden Zug raufzuhopsen, der grad vorbei rattert. Das ist eine sensible Debatte, da muss man auch mit Fakts & Figures argumentieren, und nicht mit Gefühlen. Auch mal zurückblenden in die sechziger und siebziger Jahre , als es von rechts aussen nicht weniger als sechs Volksinitiativen gab «gegen die Ueberfremdung von Volk und Heimat".

    Damals ging es gegen die «Tschinggen» (1 Mio. bei 6,8 Mio Einwohnern). Das müssen wir doch nicht zwei-, dreimal hintereinander durchmachen. Vor kurzem waren es die Kosovaren, die Tamilen, die Moslems, irgendwann auch mal die Juden. Wir sind da schon speziell, wir Schweizer.

    Bei einem eingermassen intelligenten Volk darf man auch eine gewisse Lernfähigkeit voraussetzen, dass man mit diesen Themen überlegt und nicht hysterisch umgehen muss. Sämtliche Ueberfremdungsinitiativen wurden übrigens damals abgelehnt, einige allerdings nur knapp, zu meist aus wirtschaftlichen Gründen. Aber immerhin! Aber es brauchte dazu auch Politiker und Chefredaktoren, die mit ihrem Gesicht hinstanden und sagten: Schluss jetzt mit diesem Quatsch! Von alleine ging das nicht.

    Es gibt für solche Vorstösse auch heute keine Mehrheiten. Das muss eine grosse Zeitung analysieren und thematisieren, und nicht auf jeden Vorstoss irgendeiner Schmalspurpolitikern mit leicht schleimigem Verständnis reagieren: «Man muss die Leute auch verstehen…". Nein, muss man nicht. Die Zuwanderer werden geholt, sie müssen einen Job nachweisen, bevor sie sich hier anmelden können. Sie sind ein wesentlicher Teil des herrschenden Wohlstands, das lässt sich im Einzelnen nachweisen. Das muss man halt auch mal thematisieren.

    Dieses fahrlässige Gerede über «Ventilklauseln» für als besonders lästig empfundene Volksgruppen – und darum geht es letztlich – ist unhaltbar und schadet der Schweiz. Das muss ein Chefredaktor klar und deutlich machen , statt um den Brei herumzureden.

  • am 30.04.2012 um 13:42 Uhr
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    … es gibt ja auch Chefredaktoren, die kommentieren anders, z.B. hier in der «Südostschweiz", unter dem Titel «Biederfrau und die Brandstifter": http://t.co/AT76cChx……
    Es lebe die Meinungsvielfalt!

  • am 15.05.2012 um 12:31 Uhr
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    ….Der Kern dessen, was Patrik Müller schrieb, geht aber meines Erachtens in eine andere Richtung und orientiert sich an der aktuellen Polemik um die Deutschen und den Unmut über das Bevölkerungswachstum. Er weist darauf hin, dass nicht einzelne Personen oder Nationalitäten verantwortlich gemacht werden dürfen für das rasante Bevölkerungswachstum, sondern dass der Staat die Verantwortung hat, die Zuwanderung so zu lenken, dass nicht Fremdenfeindlichkeit entsteht. Ich halte das für einen sehr wichtigen Punkt.

    Sagte Christof Moser, am 30. April 2012 um 12:17 Uhr

    Ich teile diese Meinung, es ist halt doch so dass ein kleines Land wie die Schweiz ist irgendwann mal „voll “ ist.
    Rein praktische Erwägungen sind dann beim Volks-Unmut zu suchen.
    Es ist wie in einer 4 Zi-Wohnung da können auch nicht 15 Leute (… glücklich) untergebracht werden, streit ist alsbald programmiert. Das kennen wir doch aus dem Tierreich, … hier etwas ironisch gemeint !
    Wohnungsmangel, steigende Mieten, rasante Teuerung bei den Liegenschaften, verknapptes Bauland, erhöhter Energie bedarf, zunehmender Verkehr der die Strassen verstopft, die dazugehörende Luftverschmutzung und der Lärm tun das ihre und bald stossen sogar die Bahnen an ihre kapazitäts-grenzen.

    Durch „ Verstopfung & Zupflasterung“ geht Lebensqualität in unser Land verloren, Stress für den einzelne ist dann die folge und der „soziale Frieden“ geht uns dann irgendwann abhanden.
    Wie C. Moser richtig zitiert, nicht einzelne Personen oder Nationalitäten stehen im Kreuzfeuer, sondern es ist immer „das gesamt zu viel “, (… und oft auch das benehmen der Gäste), was ein Volk zu einem bestimmten Zeitpunkt rebellieren lässt, … darauf müsste die Politik rasch präventiv reagieren !

    Das tragische ist dass mancher „etwas roh-geschnitzte Bürger“ dieses Unbehagen in „Rassismus“ umsetzt, und dies meist mangels Differenzierungs-Fähigkeit.

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