Europa Forum Luzern – ohne EU-Beitrittsbefürworter
Es hat einen guten Namen, das Europa Forum Luzern. Zweimal im Jahr veranstaltet es Symposien zu attraktiven Themen der Zeit, mit jeweils einer öffentlichen Veranstaltung am Vorabend und einem ganzen Tag Fachvorträgen von international renommierten Experten. Im Frühling 2012 war es die Migration, die genauer beleuchtet wurde (siehe den ausführlichen Bericht darüber auf Infosperber), jetzt im November waren es Globale Machtverschiebungen in Wirtschaft und Politik, die zur Debatte standen.
Doris Leuthard: Es braucht mehr Europa!
Wie immer wurde auch dieses Mal die öffentliche Versammlung des Symposiums dank dem Auftritt eines Bundesrates zum Publikumsschlager. Anstelle der ursprünglich gemeldeten Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf trat allerdings Doris Leuthard ans Rednerpult vor dem bis auf den letzten Sitz ausgebuchten Saal im Luzerner KKL. Sie argumentierte anschaulich, wie wichtig Europa für die Schweizer Wirtschaft ist. Drei Fünftel der Schweizer Exporte gehen in die EU, drei Viertel der Importe kommen aus der EU. Erstaunlich offen meinte sie wörtlich: «Es braucht mehr Europa, nicht weniger.»
In der anschliessenden Podiumsgesprächsrunde sassen ausschliesslich Männer: Der Schweizer Hans Hess, Vizepräsident der economiesuisse, der Schweizer Markus R. Neuhaus, Verwaltungsratspräsident der PricewaterhouseCoopers Schweiz, der Deutsche Jan Techau, Leiter des Europabüros des Carnegie Endowment for International Peace in Brüssel und als solcher ausgewiesener NATO-Beobachter, der Österreicher Othmar Karas, Vizepräsident des Europäischen Parlaments, und der Deutsche Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Markus Spillmann, Chefredaktor der NZZ, wirkte als Gesprächsleiter.
Kam es nun zur Frage, ob die Schweiz aufgrund der ein paar Minuten vorher von Doris Leuthard betonten Abhängigkeit der Schweiz von Europa nicht doch der EU beitreten sollte? Karas kämpfte dafür, eindringlich und in langen Voten. Aber keiner der Schweizer wollte darauf einsteigen. Techau versuchte, wie schon in seinem vorangegangenen Referat, auf die sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA aufmerksam zu machen, was für die Schweiz ebenfalls zutreffe. Perthes setzte einen bedenkenswerten Schlusspunkt: «Die Schweiz ist faktisch schon jetzt ein sehr gutes Mitglied der EU, sie zahlt bereits jetzt Milliarden an die EU. Dass sie trotzdem in der EU nicht mitreden will, ist ihr Problem.»
Obwohl Markus Spillmann ein Optimum aus den Teilnehmern herauszuholen versuchte, so richtig ergiebig war das Gespräch nicht. Schuldig daran war keiner der Anwesenden, sondern der grosse Abwesende: ein Schweizer, der die andere Meinung zum Ausdruck gebracht hätte, nämlich eine Argumentation für einen Beitritt der Schweiz zur EU. So blieb ausgerechnet das Thema Europa am Europa Forum nur einseitig beleuchtet. Nicht untypisch für den Stil der politischen Diskussion in der Schweiz: weil im Moment parteipolitisch nicht salonfähig, wird das Thema einfach ausgeklammert. (Das Podiumsgespräch kann auf der Website des Europa Forum Luzern im O-Ton abgehört werden.)
Die Werte des Westens haben grosse Anziehungskraft
Der zweite Tag begann vielversprechend. Volker Perthes sprach zum Thema «Wer regiert die Welt?». Die Welt ist nicht nur globalisiert, sondern auch multipolar, mit Polen, die anziehen, sowohl im Grossen wie auch im Regionalen. Sie ist damit allerdings auch instabil. Zur Frage der Macht verwies Perthes mit Nachdruck darauf, dass nicht nur die «harte» Macht, die militärische Stärke, zählt, sondern ebenso die «Soft Power», zu der zum Beispiel auch das «politische Modell» gehört. Nur in Kombination von beidem, von militärischer Stärke und Soft Power, kann sich Macht auch durchsetzen. Die Verschiebungen der Machtgewichte zugunsten der neuen Industriestaaten sei nur relativ, meinte Perthes. Die aufstrebenden Mächte bekommen höheren Einfluss auf die internationalen Institutionen, zum Beispiel auf die Weltbank. Aber die Ambition dieser neuen Mächte löst noch keine Probleme. Es hat zum Beispiel noch nie jemand in einem Konflikt nach China als Vermittler gerufen. Es sei deshalb, so Perthes, noch klar zu früh, die USA abzuschreiben. Obama habe die multipolare Welt akzeptiert, und dieser Schritt sei irreversibel. Jetzt gelte der Multilateralismus.
Vor allem in einem Punkt unterschied sich Volker Perthes von fast allen Rednern danach: Das Ende der westlichen Vorherrschaft sei nicht das Ende der westlichen Werte, meinte er. Der Aufbruch der arabischen Welt sei ein klarer Hinweis darauf, dass die westlichen Werte – die Demokratie, die individuellen Freiheiten – immer noch grosse Anziehungskraft hätten.
Finanzmärkte sind «Brandbeschleuniger»
Die drei nächsten Referate brachten wenig Erhellendes. Martin Neff, der Chefökonom der Credit Suisse, Christophe Bernard, Chefstratege der Bank Vontobel, und James W. Davis, Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen, sie alle erklärten die «globalen Machtverschiebungen» anhand geschickt zusammengestellter und auf Power-Point präsentierter BIP-Zahlen. Nichts Neues zumindest für jene, die täglich die NZZ lesen. Dass auch bei diesen Referenten das eine oder andere träfe Wort fiel, sei damit nicht bestritten. Wenn der Chefökonom der Credit Suisse etwa sagte, in der Krise neigten die Finanzmärkte dazu, Brandbeschleuniger zu sein, so traf er damit zweifelsohne einen guten Punkt.
In die gleiche Kategorie Referate gehörte später auch dasjenige von Jürgen Tinggren, dem CEO der Schindler Gruppe. Auch er hantierte vor allem mit BIP-Zahlen, um auf die «globalen Machtverschiebungen», so der Titel der Veranstaltung, hinzuweisen.
Es hat genug Öl
Zu einer üblen PR-Präsentation verkam dann allerdings das Referat von Constantin Cronenberg, CEO von BP Schweiz, neben Schindler und Vontobel ein weiterer Sponsor des Europa Forum Luzern. Immerhin erfuhr man von Cronenberg, so man es denn glauben mochte, dass man sich wegen der beschränkten Ölvorkommen keine Sorgen machen müsse. «Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Es gibt genug Öl», sagte Cronenberg. Dass sich die Grossmächte in ihrer Aussenpolitik vor allem um die ölreichen Staaten kümmern – und warum wohl? – , ist dem BP-Manager offenbar noch nicht aufgefallen.
China, Russland und die Türkei am Rednerpult
Die Leitung des Europa Forum Luzern hatte aber nicht nur Sponsor-Verpflichtungen zu erfüllen. Sie lud auch drei der aufstrebenden Länder ein, über sich selber etwas zu sagen. Für China trat kein Geringerer als der chinesische Botschafter in Bern, Ken Wu, ans Rednerpult, und er sprach perfekt deutsch. Er sagte allerdings auch nur, was man erwartete: lauter Löbliches über sein Land. Auch zum Konflikt mit Japan wegen der Diaoyu-Inseln wusste er nur zu sagen, dass China einen historischen Anspruch darauf habe. (Unnötig zu sagen, dass «historische Ansprüche» immer daran kranken, dass es auf das Jahr ankommt, auf das man sich bezieht. Israel macht historische Ansprüche auf Gebiete im Westjordanland geltend aus der Zeit noch vor Christi Geburt!) Der Russe Petr A. Fedosov, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit der Erdöl- und Erdgasgesellschaft ITERA, sprach ebenfalls gutes Deutsch. Auf die im Raum stehende Frage, ob Russland wirklich ein aufstrebendes Land ist oder ob es nicht vielmehr einfach Geld macht aus dem Verkauf von Bodenschätzen, ohne selber etwas Substanzielles zu leisten, hatte er nur die nichtssagende Antwort, Russland zähle sich zu den BRICS-Staaten. Saban Kardas schliesslich, der türkische Politologe, hielt sein Referat zwar «nur» in Englisch, wusste aber deutlich besser zu differenzieren, wo die Türkei gut im Rennen liegt und wo sie Verbesserungspotenzial hat.
Gegen den Strich gebürstet
Richtig unterhaltend war der deutsche Politprofessor Eberhard Sandschneider, Autor des Buches «Der erfolgreiche Abstieg Europas». Zumindest wer ob all der negativen Schlagzeilen zu Europa in politische Depression zu verfallen droht, tut gut daran, sich an Sandschneiders zukunftsfreudigen Thesen zu Europa wieder hochzuhangeln. Eine seiner Aussagen etwa ist: «Wir leben in Europa auf einer Insel der Glückseligkeit.» Sein Referat kann auf der Website des Europa Forum Luzern im Wortlaut nachgehört werden. Dass er vor allem «gegen den Strich bürsten» wollte, wie er selber sagte, ist zwar noch kein Beleg für inhaltliche Tiefe, aber immerhin ein Hinweis darauf, dass auch Polit-Akademiker nicht immer zum selben Analyse-Resultat kommen müssen.
Der Vollständigkeit halber erwähnt sei schliesslich Detlef Niese, Leiter Develop Policy bei Novartis Pharma. Sein Hauptthema war – etwas gar auffällig – die Forderung nach weltweiten Standards bei der medizinischen Forschung mit klinischen Versuchen am Menschen. Ihn zu fragen, was er zu den kritischen Berichten über Versuche an (nicht informierten) Menschen in Indien durch Novartis sage, blieb leider keine Zeit.
Und das war’s dann?
«Globale Machtverschiebungen in Wirtschaft und Politik» war der Titel der Veranstaltung. «Wohin steuert Europa, was tut die Schweiz?» war die Unterzeile. Der aufmerksame Zuhörer, der auch zur Frage im Untertitel gerne ein paar Gedanken gehört hätte, schaute schon öftermal auf die Uhr: Es gab wenig Anzeichen, dass da noch etwas Substanzielles zu erwarten war.
Doch gefehlt. Es gab immerhin, nach einem interessanten Auftakt des Symposiums durch Volker Perthes, nun auch noch einen brillanten Abschluss. Ausgerechnet einem jungen Historiker, Thomas Maissen, als Schweizer an der Universität Heidelberg im Einsatz, war es vorbehalten, endlich auch noch eine selbstkritische Note ins Plenum zu bringen. «Eine Welt im Umbruch – mit einer Schweiz im Schlaf des Selbstgerechten?» Nach all dem BIP-Denken, das da ein Tag lang präsentiert wurde, ohne dass auch nur am Rande die Frage auftauchte, ob unser aller Ziel denn wirklich nur ein Wachstum des BIP sei, eine wahre Wohltat. Volker Perthes hatte es Eingangs des Symposiums gesagt: Es gibt nicht nur das Wirtschaftswachstum, es gibt auch Werte! Thomas Maissen sagte es zum Abschluss: Auch das Selbstverständnis eines Volkes spielt politisch eine eminent wichtige Rolle. Seine Rede ist es wert, in extenso gelesen zu werden. Siehe unten unter weiterführende Informationen, ein pdf zum Downloaden.
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Zusatzinformation: Die aus Sicht des Zuhörers etwas einseitige Auswahl der Referenten ist besser nachvollziehbar, wenn man weiss, wer die Sponsoren des Europa Forum Luzern sind:
Hauptpartner: Schweizerische Eidgenossenschaft, Integrationsbüro EDA/EVD; BMW
Partner: BP; economiesuisse; Schindler; Bank Vontobel; serv (Schweizerische Exportrisikoversicherung); Kanton Zürich, Volkswirtschaftsdirektion.
Premium Medienpartner: NZZ; l’Hebdo
Medienpartner: Schweizer Monat; moneycab
Netzwerkpartner: medical cluster; nebs; scienceinndustries Switzerland; VSUD (Vereinigung Schweizerischer Unternehmen in Deutschland; British Swiss Chamber of Commerce; Handelskammer Deutschland-Schweiz; Joint Chambers of Commerce Russia,Ukraine, Kasakhstan; Belarus, Kyrgyzstan, Moldova; Swiss Chinese Chamber of Commerce
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Diese Vernastaltung reflektiert die Unfähigkeit von uns Schweizern, einen Diskurs zu führen. Die Positionen sind schon festgeklopft, bevor man überhaupt anfängt. Und kaum einer wagt die Abweichung vom Mainstream. Das wiederum färbt völlig auf die Berichterstattung in den Medien ab.
Was sind wir für ängstlich-höseliges, ratloses Volk geworden!
Wenn wenigstens die EU-Gegner eine realistische Zukunftsperspektive zur Schweiz IN Europa vorlegen könnten, ausser dem Nachbeten, die Bilaterlane Verträge….etcpp. Diese Verträge sind bei näherem Hinsehen ein kaum mehr handhabbares bürokratisches Monster (die Schweizer haben herangezüchtet, nicht die EU!), das immer kafkaesker wird, je mehr Einzelbestimmungen hinzukommen . Allein das Grundlagendokument zählt 154 Unterschriften! Das ist kein Zukunftsprojekt: das ist krank!
Wenn die Schweiz tatsächlich eine eigenständige Rollen spielen will, dann muss sie klarmachen können, wie?
Wir brauchen Verbündete. Wir haben keinen einzigen mehr, nachdem selbst unsere Beziehungen zu unserem mit Abstand wichtigsten Wirtschaftspartner Deutschland sind ernsthaft gestört sind.
Ein Alleingang setzt voraus, dass man als Staat mit wechselnden Koalitionen umgehen muss. Das bedingt hohe Flexibilität und einen virtuosen Regierungs- und Verwaltungsapparat. Beides haben wir nicht.
Statteddesen lassen wir uns vom Winzling Liechtenstein an die Wand spielen. Liechtenstein ist EWR-Mitglied, schloss ein erfolgreiches Steuerabkommen mit Grossbritannien und Deutschland ab. Sowohl der Finanz- wie der Werkplatz in Liechtenstein sind völlig intakt.
Der Grund: Liechtenstein hatte im entscheidenden Moment eine politische Führung, die wusste, was sie wollte: der Fürst hat das Land souverän in den EWR geführt. Das BIP pro Kopf in Liechtenstein ist heute höher als jenes der Schweiz.
Uebrigens: Das Fürstentum hat weniger Einwohner als Dübendorf!
Man muss endlich mal Klartext reden und von diesen naiven Grossmachtträumen abschied nehmen.
Die Schweiz ist nur eine eingebildete Grossmacht.
Die UBSCSnovartisnestléxstrataundeinpaarandere AG ist eine wirtschaftliche Grossmacht. Diese AG hat aber immer weniger mit der (Eid-)Genossenschaft zu tun und führt zunehmend ein Eigenleben.
Das Genossenschaftsmodell muss auf den Prüfstand.