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Protest in Athen gegen die drastische Austeritätspolitik der Regierung © PressTV

«Ein weiterer Schuldenschnitt ist überfällig»

upg /  Griechenland brauche eine neue Politik. Die Angst vor dem Wahlausgang sei verfehlt, sagt Finanzprofessor Marc Chesney.

upg. Falls Griechenland seine Schuldenlast nicht vollständig mit Zinsen bedient und alle Staatsobligationen zurückzahlt, entstehe ein gefährlicher Schneeballeffekt, erklärt Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble. Gedroht wird mit «Grexit», einem Rausschmeissen Griechenlands aus der Euro-Zone. Der Weltwährungsfonds hat seine Zahlungen bis zu den Wahlen suspendiert. Marc Chesney, Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Zürich, kritisiert «Grexit» und Zahlungsstopp als «Einschüchterung der Wählerinnen und Wähler». Infosperber hat ihn interviewt.

Infosperber: «Griechenland spielt mit dem Feuer», titelte die NZZ. Auch viele Stimmen in der EU sehen einem Wahlsieg von Alexis Tsipras und seiner linken Syriza mit Angst und Bangen entgegen. Teilen Sie die Befürchtungen?
Chesney: Überhaupt nicht. Ein Wahlsieg der Syriza könnte eine erwünschte Umkehr der aktuellen neoliberalen Politik bringen. Wer spielt denn mit dem Feuer? Es sind die EU, die Europäische Zentralbank EZB und der Weltwährungsfonds IMF. Diese setzten in Griechenland eine strikte Austeritätspolitik durch und schützten europäische Grossbanken, die Griechenland Kredite gegeben hatten. Als Folge dieser Politik ist die Verschuldung Griechenlands von 120 Prozent im Jahr 2007 auf 172 Prozent des heutigen Bruttoinlandprodukts angestiegen. Die Arbeitslosigkeit hat zu- statt abgenommen, und ein Drittel der Bevölkerung zählt heute zu den offiziell Armen. Diese Politik hat in eine gefährliche Sackgasse geführt. Die Lage ist unhaltbar.
Was ist denn die Alternative?
Zuerst ist das Eintreiben von Steuern wichtig, nicht nur in Griechenland. Grosse Konzerne und private Reeder müssen endlich ordentliche Steuern zahlen. Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission, sollte eigentlich genau wissen, wie der griechische Staatshaushalt saniert werden kann. Denn ausgerechnet unter Premierminister Juncker hat Luxemburg seit 2002 eine massive Steuerumgehung auf Kosten anderer europäischer Länder organisiert. Das wissen wir dank den Luxemburg-Leaks von Ende 2014. Das Ganze ist eine Farce.
Zweitens drängt sich schon lange ein Schuldenschnitt auf. Nicht nur Griechenland ächzt unter der Last der Schulden. Diese Schuldenlast kann nicht mit Inflation zum Verschwinden gebracht werden, weil diese viel zu gering ist. Deshalb sollen die Gläubiger zur Kasse kommen und Abstriche an ihren Forderungen akzeptieren.
Vor ein paar Jahren waren unter den Gläubigern Griechenlands noch viele Banken und Versicherungen, die grosse Abschreiber auf ihren Anlagen vielleicht nicht hätten verkraften können. Unterdessen durften diese privaten Gläubiger ihre unsicheren griechischen Obligationen an die Gläubiger-Troika, die Europäische Zentralbank EZB, den Weltwährungsfonds IWF und an die EU abtreten. Besteht das Problem «Too Big to Fail » überhaupt noch?
Grossbanken konnten den grössten Teil ihrer Risiken der Öffentlichkeit überwälzen. Sie sind Risiken eingegangen, wollten diese aber nicht tragen! Das ist ein Skandal. Jetzt haften die Steuerzahler der reicheren EU-Länder für die meisten griechischen Wertpapiere, so dass einzelne dieser Länder weitere Finanzprobleme bekommen könnten.

Bei den Banken bleiben die ungedeckten «Credit Default Swaps» oder CDS eine Unbekannte. Mit diesen Papieren spekulieren sie für oder gegen Schuldenschnitte. Es ist nicht öffentlich bekannt, welche Institute welche CDS-Positionen halten.
Einen kleinen Schuldenschnitt von immerhin über 100 Milliarden Euro hatte Griechenland bereits im Jahr 2012 im Einverständnis mit den Gläubigern vorgenommen. Warum jetzt eine solche Angst vor einem weiteren, grösseren Schuldenschnitt?
Heute müssten wie gesagt die Steuerzahler die Hauptlast tragen. Innerhalb der Gläubiger-Troika käme Deutschland am meisten zur Kasse. Finanzminister Wolfgang Schäuble müsste eingestehen, dass seine Politik gescheitert ist. Sein

Professor Marc Chesney
Versprechen, die deutschen Steuerzahler kämen wegen der «Rettung Griechenlands» nicht zur Kasse, würde sich als hohle Phrase entpuppen.
Schäuble und etliche Ökonomen warnen vor einem Schneeballeffekt. Wenn Griechenland einen Schuldenschnitt vornimmt, könnten dies Irland, Portugal oder Spanien nachmachen, was zu einer nicht kontrollierbaren Finanz- und Wirtschaftskrise führen könnte. Wie gross schätzen Sie diese Gefahr ein?
Die Gefahr besteht. Doch es gibt keine Alternative. Es braucht eine Änderung der Politik, um die Schulden zu reduzieren – nicht nur in Griechenland. Es war ein Fehler, prioritär europäische Grossbanken zu retten statt die Staaten.
Man wirft Griechenland Korruption, Vetternwirtschaft, Bürokratie und schlechte Bedingungen für Investitionen vor. Das Land sei für die Misere selbst verantwortlich. Deshalb müsse Griechenland die Schulden ans Ausland selbst mit grössten Opfern zurückzahlen. Andrerseits haben Banken, Versicherungen oder Investitionsfonds in griechische Wertpapiere freiwillig investiert und die Milliarden freiwillig ausgeliehen. Dabei nahmen sie Risiken in Kauf. Warum wollen die Regierungen sie nun vor Verlusten verschonen? Normalerweise tragen doch die Investoren das Unternehmerrisiko?
Ja, Grossbanken hätten die Risiken tragen müssen. Sie waren in der Lage, die Situation in Griechenland einzuschätzen. Es war niemand verpflichtet, Griechenland Milliarden-Kredite zu geben.
Medien berichteten von der Gefahr eines «Austritts» aus der Euro-Zone oder eines «Verlassens» des Euro. Alexis Tsipras will aber den Euro behalten. Die EU müsste Griechenland also aus der Währungsunion rausschmeissen. Wäre das möglich?
Es scheint mir fraglich, ob die Euro-Länder ein Mitglied gegen seinen Willen vom Euro ausschliessen können.

Siehe auch
«Vor den Wahlen wollen alle Griechenland retten» vom 13.1.2015
«Raus aus der Schuldenfalle geht es nur mit Opfern» vom 22.1.2014
«Eine trügerische Ruhe macht Kommentatoren blind» vom 5.1.2014
«Zypern: Bankgläubiger geschont, Sparer geschröpft» vom 18.3.2013
«Die reichen Griechen haben Milliarden ins Ausland transferiert» vom 13.3.2012


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Professor Marc Chesney ist Professor für «Quantitative Finance» an der Universität Zürich. Autor des Buches «Vom Grossen Krieg zur permanenten Krise», Versus-Verlag 2014. Hier bestellen für 16.70 CHF.

Zum Infosperber-Dossier:

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Die Euro- und Währungskrise

Noch mehr Geldspritzen und Schulden bringen die Wirtschaft nicht mehr zum Wachsen. Sie führen zum Kollaps.

Tsipras

Griechenland nach der Kapitulation

EU, EZB und IWF erzwangen Rückzahlungen an die fahrlässigen Kreditgeber – auf dem Buckel der Bevölkerung.

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2 Meinungen

  • am 14.01.2015 um 13:20 Uhr
    Permalink

    Marc Chesnay sieht durch: «Es braucht eine Änderung der Politik, um die Schulden zu reduzieren – nicht nur in Griechenland. Es war ein Fehler, prioritär europäische Grossbanken zu retten statt die Staaten.» Doch leider geht das Trauerspiel weiter. «König» Mario Draghi will allen seinen Stempel aufdrücken! Nun wird die EZB gar griechische Staatsanleihen kaufen, der Entscheid ist gerade heute gefallen, der Generalanwalt hat grünes Licht gegeben, der EU-Gerichtshof wird dies vor der Sommerpause bestätigen. Wie lange wird dieses «unsägliche Spiel» noch anhalten.
    Denn das Ganze ist kein Spiel! Der Tag der Wahrheit rückt unmissverständlich näher.
    Fasten seat-belts!

  • am 3.02.2015 um 10:23 Uhr
    Permalink

    «Jetzt haften die Steuerzahler der reicheren EU-Länder für die meisten griechischen Wertpapiere, so dass einzelne dieser Länder weitere Finanzprobleme bekommen könnten.» So steht es in einem anderen IS-Artikel. Die Grossbanken seien von ihren Schulden befreit.

    Alles Quatsch! Wenn die reicheren Staaten in Europa für die griechischen Schulden (320 Mrd. Euro, und die steigen munter weiter) aufkommen müssen, dann sind sie gleich nicht mehr reich. Dann Gnade Europa inklusive seinen Grossbanken, von denen jetzt schon die meisten – insbesondere die südlichen – an ihren Schulden zu ersticken drohen. Deshalb flutet Draghi ja Europa mit zig Mrd. Euro – eine einfallslose und auch hilflose Massnahme, von der er genau weiss, wohin sie führt – nämlich zur weiteren Verschuldung Europas. Gedrucktes Geld – im Gegensatz zu Geld, das aus Wertschöpfung gewonnen wird – ist Schuld-Geld.

    Kein Schuldenschnitt wird Griechenland retten, ob 320 Mrd. Euro oder 270 Mrd. Euro oder 250 Mrd. Euro oder 200 Mrd. Euro, ganz egal welche dieser horrenden Summen angepeilt wird, Griechenland kann keine dieser Schuldensummen stemmen. Das ist höchstens eine endlose Geschichte, bei der die Schulden immer weiter steigen und die Spekulanten munter Gewinne machen, indem sie das gedruckte Geld abziehen, um es gegen hartes Vermögen umzutauschen. Die steigenden Schulden bleiben in den jeweiligen Ländern. Italien, Spanien, Portugal und weitere EU-Länder sind diesem geldvernichtendem Reigen ausgeliefert.

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