Neues ETH-Gebäude: Kein Grund zum Anstossen
«Science City wird ein Leuchtturm der Nachhaltigkeit», prophezeite Walter Steinmann, Direktor des Bundesamtes für Energie, 2007 an einer Medienorientierung der ETH. «Science City IST ein Leuchtturm der Nachhaltigkeit», bekräftigte drei Jahre später dessen Projektleiter David Müller. Der erste Bau des neuen ETH-Campus «Science City» auf dem Hönggerberg in Zürich wurde im Oktober 2008 eingeweiht und 2010 mit dem österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit ausgezeichnet. Es handelt sich um das markante «Information Science Laboratory», kurz «Gebäude HIT» genannt.
Das 68 Millionen Franken teure Gebäude bietet Raum für 700 Arbeits- und Forschungsplätze und «gehört zu den innovativsten in Europa», lobte die ETH am Einweihungstag und fuhr fort: «Es wurde nach zukunftsgerichteten Energie-, Betriebs- und Umweltkonzepten gebaut und erfüllt den Minergie-Eco-Standard.» Das «Minergie-Eco»-Label erhielt das neue Gebäude schon vor der Eröffnung, nämlich im August 2008; es prangt heute in der Eingangshalle des von den Architekten Baumschlager und Eberle geplanten Vorzeigebaus. Mingergie-Zertifizierungsstelle für den Kanton Zürich ist die kantonale Baudirektion.
«Minergie-Eco» bürgt nicht nur für einen tiefen Energieverbrauch. Obendrein muss der damit ausgezeichnete Bau auch bauökologische Kriterien erfüllen und für gute Gesundheit sorgen. Dazu gehört eine optimale Tageslichtnutzung sowie eine gute und sparsame künstliche Beleuchtung. Der zulässige Energieverbrauch (Energiekennzahl) für Beleuchtung beträgt bei diesem Gebäude 10,3 Kilowattstunden (kWh) pro Quadratmeter (m2) Energienutzungsfläche und pro Jahr (a). Dieser Wert werde haargenau eingehalten. Das jedenfalls ergab der Energienachweis, den die Walliser Firma Lauber Iwisa AG, zuständig für die Haustechnik im ETH-Neubau, im Mai 2006 ablieferte.
Doppelt so viel Lichtstrom
In der Regel vertraut der Verein Minergie dem Energienachweis, der auf Planungsdaten beruht. Nur in wenigen Fällen ordnet er später Strichproben an, unter anderem beim Gebäude HIT. Der Befund dieser Kontrolle, welche die Beleuchtungs-Experten Stefan Gasser (Eteam) und Daniel Tschudy (Amstein+Walthert) am 9. Juni 2009 im Beisein von je einem Vertreter der ETH und des Vereins Minergie durchführten, trübte den vorauseilenden Werbeglanz. Denn punkto Licht ist das HIT-Gebäude der ETH keine Leuchte. Die Resultate zusammen gefasst:
o Im Seminarraum und in einem Teil der Büros reicht die Lichtleistung nicht, um die verlangte Helligkeit (Luxzahl) zu erreichen. Folge: Etliche Nutzer ergänzen das eingebaute Licht mit – im Energienachweis nicht vorgesehenen – Tischlampen. Ein Augenschein im Dezember 2010 zeigte, dass eine Reihe dieser Tischlampen mit stromfressenden 60-Watt-Glühlampen bestückt sind.
o Die Tageslicht-Nutzung, die im Nachweis als sehr gut deklariert wird, beurteilten die Kontrolleure als mittelmässig, was mehr Kunstlicht erfordert. Den Blendschutz qualifizierten sie als minderwertig. Stoffrollos vermindern die Nutzung des Tageslichts zusätzlich und erhöhen wiederum den Lichtstromverbrauch.
o In Toiletten war die installierte Leistung der Beleuchtung um 150 Prozent höher, als der Energienachweis angab. In Korridoren entsprach die installierte Leistung zwar dem Nachweis, doch zum Teil wurden andere als die angegebenen Leuchten eingebaut.
o Die Lichtsteuerung funktionierte in vielen Räumen nicht oder war falsch eingestellt.
Seinen Befund fasst Stefan Gasser wie folgt zusammen: «Minergie heisst mehr Komfort mit weniger Energie. Im HIT-Gebäude trifft das Gegenteil zu: Weniger Komfort mit mehr Energie». Aufgrund ihrer Bestandesaufnahme vom Juni 2009 errechneten die Kontrolleure für die Beleuchtung eine Energiekennzahl von 20 kWh/m2/a. Dieser Wert ist annähernd doppelt so hoch wie der Minergie-Grenzwert von 10,3 kWh/m2/a. Statt 164 000 kWh verschlingt die Beleuchtung laut Hochrechnung des Kontrollberichts 326 000 kWh Strom pro Jahr.
ETH will nachbessern
Daniel Emmenegger, Projektleiter der ETH, und Matthias Sulzer von der Lauber-Iwisa, die den Energienachweis verfasste, bestätigen gegenüber Hochparterre einige der beschriebenen Mängel. Die Beleuchtung in einem Teil der Büros sei tatsächlich ungenügend. Das rühre daher, dass die Büros vorübergehend anders eingeteilt sind, als geplant war. Bei einem für flexible Nutzung konzipierten Gebäude «muss bei der Haustechnik eben Lehrgeld bezahlt werden», begründet Emmenegger. Der Architekt Dietmar Eberle ergänzt dazu auf Anfrage: «Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass sich die Anforderungen beim Bau und vor allem bei der Nutzung eines Gebäudes ändern. Diesem Umstand können Labels, die allein auf Planungswerten basieren, zu wenig Rechnung tragen.»
Ein Programm zur Optimierung der Beleuchtung ist laut ETH-Projektleiter Daniel Emmenegger inzwischen eingeleitet worden und werde 2011 umgesetzt. Dabei gehe es primär darum, die Lichtsteuerung überall zu optimieren. In Seminarräumen soll die Beleuchtung nachgerüstet werden. Die anfallenden Kosten beziffert er auf 70- bis 80 000 Franken. Damit, so hofft er, sollte es möglich sein, die Anforderungen von «Minergie-Eco» nachträglich zu erfüllen.
Diese optimistische Einschätzung stellt der Lichtexperte und Kontrollbericht-Verfasser Stefan Gasser in Frage: «Die Lichtplanung ging von Anfang an von falschen Voraussetzungen aus.» So sei die Tageslichtnutzung massiv überschätzt worden. Zudem widerspreche die fixe und schematische Platzierung der Leuchten der angestrebten flexiblen Nutzung. «Solch grundlegende Planungsfehler lassen sich mit Anpassung der Steuerung kaum genügend korrigieren», folgert Gasser. Nach der Optimierung soll die Beleuchtung einer erneuten Minergie-Kontrolle unterzogen werden. Dann wird sich zeigen, wer Recht hat (Hochparterre* wird darüber berichten).
Bei Minergie kein Einzelfall
Fest steht: Die ETH wirbt seit zweieinhalb Jahren mit einem «Minergie-Eco»-Zertifikat, das ihr Gebäude nicht erfüllt. Der Kontrollbericht, der das belegt, liegt seit anderthalb Jahren bei Christoph Gmür, der innerhalb der Zürcher Baudirektion für die Minergie-Zertifizierung zuständig ist. Gmür plante zwar eine Sitzung, um die Differenzen zu klären, doch diese fand nie statt. «Weil der Fall umstritten war», sagt Gmür, habe er das Dossier vor einem Jahr an den Geschäftsführer von Minergie, Franz Beyeler, weiter gereicht. Gegenüber «Hochparterre» erklärt Beyeler: «Den Vorwurf, dass ich das Dossier liegen liess, nehme ich auf mich.»
Dass Minergie-Zertifikate nicht halten, was sie versprechen, ist offenbar kein Einzelfall. So haben die Lichtexperten Gasser und Tschudy die Energiekennzahl Beleuchtung von sechs Bauten überprüft, die mit dem Minergie-Label ausgezeichnet wurden. Resultat: Nicht nur beim ETH-Gebäude HIT, auch bei drei weiteren Gebäuden wurde die zulässige Energiekennzahl Beleuchtung deutlich verfehlt. Beim Neubau des Medienzentrum Maihofs in Luzern (Neue Luzerner Zeitung) etwa war die ermittelte Energiekennzahl Licht dreimal so hoch wie der Grenzwert, nur weil die Lichtsteuerung falsch eingestellt war. Dank Kontrolle ist dieser Fehler nachträglich behoben worden.
(Dieser Artikel ist zuerst in der Januar-Ausgabe der Architekturzeitschrift «Hochparterre» erschienen.)
Kommentar: Mehr als nur eine Blamage
Hanspeter Guggenbühl
Geht es darum, die beste Technik zu propagieren, lehnen sich ETH-Leute weit aus dem Fenster. Die ETH-Architekturabteilung etwa verkündete im November 2010, die Steigerung der Energieeffizienz im Gebäude sei überholt. Energiesparen müsse durch «Zero (CO2-)Emission-Architecture», Wärmedämmung durch optimale Haustechnik ersetzt werden. Damit provozieren die Architekturprofessoren einen Richtungskampf mit den Kantonen und dem Verein Minergie.
Andererseits schmückt die ETH ihre «Leuchtturm»-Bauten gerne mit dem Label «Minergie». Im Fall des «HIT»-Gebäudes entpuppt sich dieses Zertifikat jetzt als Etikettenschwindel. Das ist eine Blamage, sowohl für die ETH als auch für den Label-Verkäufer Minergie.
Doch es geht um mehr. Der hier beschriebene Fall illustriert drei grundlegende Probleme: 1. Die Ergebnisse halten vielfach nicht, was gross publizierte Prognosen, Ankündigungen oder Planungen versprechen. Das rührt daher, dass planerische Vorgaben nicht richtig vollzogen werden. Zudem bleiben viele Resultate mangels Kontrollen im Dunkeln. 2. Ökonomische Erwägungen – von der Senkung der Baukosten bis zum Ertrag aus dem Label-Verkauf – haben Vorrang gegenüber Qualität und Qualitätskontrolle. Deshalb ist es unverständlich, dass Kantone wie Zürich Gebäude mit «Minergie» zertifizieren, bevor die Bauten in Betrieb stehen und erste Resultate vorliegen. 3. Technik ist störungsanfällig, und ihre Wirkung wird überschätzt. Darum ist es falsch, zu glauben, die Haustechnik werde es schon richten, wenn Architektinnen und Bauingenieure bei der Planung den haushälterischen Umgang mit Energie und andern Ressourcen vernachlässigen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine