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Am 31. Oktober 2014 wurde im Gotthard-Basistunnel die letzte Schwelle eingebaut © AlpTransit Gotthard AG

Der Wandel der Neat vom Verkehrs- zum Politprojekt

Hanspeter Guggenbühl /  Als Bahnprojekt ist sie gestorben, als Politprojekt auferstanden, als Bau mit begrenztem Nutzen wird die Neat jetzt eingeweiht.

Red. Im Vorfeld der Einweihung des Gotthard-Basistunnels am 1. Juni dieses Jahres veröffentlichen wir in lockerer Folge mehrere Artikel zu verschiedenen Aspekten der Neat (1).

Am Anfang war die Neat (Neue Eisenbahn-Alpentransversale) ein Verkehrsprojekt. Sie sollte dem Personen- und Gütertransport, der mit der Hochkonjunktur ab den 1950er-Jahren stark wuchs, einen neuen, schnelleren Weg durch die Alpen bahnen. Der Verkehr auf der Schiene war damals ein gutes Geschäft, der Strassentunnel durch den Gotthard noch nicht mal geplant. Eine 1963 vom Bund eingesetzte Kommission studierte sieben Jahre lang, gab 1970 der Achse durch den Gotthard den Vorzug und empfahl: «Mit dem Bau sollte möglichst rasch begonnen werden.»

Der Eile folgte die Weile. In den 1970er-Jahren zankten sich die Regionen um die Linienführung: Die Kantone im Zentrum samt Zürich und Basel begrüssten den Gotthard-Entscheid. Die Ostschweizer begehrten die Variante Splügen oder Tödi-Greina, während die Westschweizer auf die Achse Lötschberg-Simplon setzten. Derweil bohrten Mineure die erste Strassenröhre durch den Gotthard, die Bundesrat Hans Hürlimann 1980 mit den Worten eröffnete: «Dieser Tunnel ist kein Korridor für den Schwerverkehr.» 1983 befand dann der Bundesrat, eine neue Alpentransversale sei mangels Transportnachfrage «nicht dringlich» und würde «die Ertragslage der Bahnen schwächen». Als reines Verkehrsprojekt war die Neat damit gestorben.

Alte Neat, neue Funktionen

Auf Druck des Parlamentes holte die Regierung 1988 die alten Pläne wieder aus den Schubladen, und die Befürworter (alle Bundesratsparteien) versahen sie mit einer neuen Doktrin: Die zusätzliche Bahnlinie sei nötig, um die Schweiz ins Verkehrs- und Wirtschaftssystem der EU zu integrieren, ohne die nationale 28-Tonnen-Limite im Strassentransport zu erhöhen. Zudem brauche es die Neat, um den Güter-Transitverkehr auf die Schiene zurück zu verlagern und eine zweite Strassenröhre durch den Gotthard zu vermeiden. Die Alpeninitiative aber, welche diese Verlagerung verbindlich forderte, empfahlen Bundesrat und Parlament später zur Ablehnung.

Um bei der Linienwahl die regionalpolitischen Gegensätze zu glätten, beschloss der Bundesrat die – vom VCS (Verkehrsclub der Schweiz) entworfene – Netz-Variante. Diese bestand aus einer neuen Bahnlinie von Arth-Goldau durch Gotthard und Ceneri nach Lugano, einer neuen Linie von Frutigen durch den Lötschberg nach Brig, inklusive Autoverlad, sowie dem Hirzeltunnel als Anschluss an die Ostschweiz. Dieser Lösung, die scheinbar allen Regionen etwas brachte, stimmte das Volk im September 1992 zu, indem es das Referendum der Grünen ablehnte.

Neuer verkehrspolitischer Deal

Der Euphorie über das «Jahrhundertwerk» folgte der Katzenjammer: Drei Monate nach dem Volks-Ja zur Neat lehnten die Abstimmenden den Beitritt zum EWR (Europäischer Wirtschaftsraum) ab. Trotz Neat forderte die EU freie Fahrt für 40-Tönner auf der Strasse, bekämpfte die Schweizer Schwerverkehrs-Abgabe und torpedierte damit die Verlagerung der Güter auf die Schiene. Gleichzeitig stiegen die budgetierten Baukosten, und neue Wirtschaftlichkeitsstudien bestätigten: Die Neat führt tief in die roten Zahlen (Mehr über die Wirtschaftlichkeit in einem späteren Neat-Artikel).

1994 befürworteten die Stimmberechtigten die Initiative zum Schutz der Alpen, und zwei Jahre später löste der neu gewählte Moritz Leuenberger Adolf Ogi als Verkehrsminister ab. Damit nahm die Schweizer Verkehrs- und Europapolitik eine neue Wende: Leuenberger gab die 28-Tonnen-Limite preis, verknüpfte die 40-Tonnen-Limite aber mit der bereits beschlossenen nationalen Schwerverkehrs-Abgabe sowie der Umsetzung der Alpeninitiative. Die Neat nutzte er als Pfand in den Verhandlungen für bilaterale Verträge mit der EU.

Um den wirtschaftlichen Verlust zu begrenzen, reduzierte der Bundesrat den 1992 beschlossenen Bauplan der Neat: Er verzichtete auf den Hirzeltunnel, die neue Bahnlinie Arth-Goldau-Erstfeld, die Umfahrung Bellinzonas und die zweite Fahrspur im neuen Tunnel ins Wallis sowie auf den Autoverlad. Damit bestand und besteht die Neat im Wesentlichen noch aus den Basistunnels durch den Lötschberg (einspurig, eingeweiht 2007), Gotthard (Einweihung Juni 2016) sowie Ceneri (Eröffnung 2020 geplant). Gleichzeitig veränderte die Landesregierung deren Finanzierung. Demnach ersetzt ein Fonds (FinöV), mitfinanziert durch die Schwerverkehrs-Abgabe und Treibstoffsteuern, Darlehen in Milliardenhöhe.

Diesem neuen Deal um die abgespeckte Neat stimmten die Schweizer Stimmberechtigten 1998 indirekt zu, indem sie die FinöV-Vorlage befürworteten; im Unterschied zur ersten Neat-Abstimmung stimmten die Grünen jetzt zu, nachdem das Volk die Alpeninitiative angenommen hatte, während SVP und Teile der Autolobby dagegen votierten. Damit konnten die Mineure, die bereits eine Milliarde Franken in die Neat verlocht hatten, im Lötschberg und Gotthard weiter bohren.

Bau mit begrenztem Verkehrsnutzen

Am 1. Juni 2016, sieben Jahre später als 1992 angekündigt, wird der Gotthard-Basistunnel als Kernstück der Neat mit viel Pomp eingeweiht, und Ende 2016 wird er eröffnet. Entstanden ist ein Bauwerk der Superlative. Doch die Endkosten der Neat sind höher und ihr Nutzen kleiner, als das 1992 vom Volk beschlossene Projekt versprochen hatte. Das zeigen folgende Vergleiche:

  • Für die 1992 bewilligte Neat budgetierte der Bund Baukosten von 14 Milliarden Franken (Preisstand 1992). Trotz der erwähnten Abstriche am Bauprogramm werden sich die Endkosten auf annähernd 24 Milliarden Franken summieren.
  • Die Neat verkürze 2010 die Reisezeit von Basel nach Mailand um zwei, von Zürich nach Mailand um mehr als anderthalb Stunden, versprach der Bundesrat in der Botschaft von 1990. Heute rechnet er noch mit Reisezeitverkürzungen von je einer Stunde, aber erst ab 2021 nach Eröffnung des Ceneri-Basistunnels. Statt zwei Stunden und 10 Minuten, wie 1992 angekündigt, benötigt der schnellste Zug von Zürich HB nach Milano-Centrale dann 3.03 (heute 4.03) Stunden.
  • Der alpenquerende Gütertransport zwischen Nordeuropa und Italien werde sich bis 2020 verdoppeln, rechnete der Bundesrat 1990. In Wirklichkeit stieg die Gütermenge bis 2015 nur um etwa 50 Prozent, weil die Wirtschaft in Italien seit 2008 schrumpft. Damit dürfte ein Teil der Neat-Kapazität längere Zeit ungenutzt bleiben (Mehr zum Konflikt Tempo contra Kapazität in einen nächsten Neat-Artikel).
  • Entgegen der Beteuerungen von 1992 hat die Schweizer Regierung die Gewichtslimite für den Strassentransport auf 40 Tonnen erhöht und den Bau einer zweiten Strassenröhre durch den Gotthard beschlossen.
  • Die Verlagerung des alpenquerenden Gütertransits auf die Schiene, die Verfassung (Alpeninitiative) und Gesetz seit Jahren fordern, lässt sich trotz Neat nicht erreichen; das zeigen neue Studien.

Fazit: Die Neat war und ist ein Projekt zur Stützung der Schweizer Verkehrs-, Europa- und Regionalpolitik. Sie zeugt von grosser Ingenieur- und Baukunst. Doch gemessen an den hohen Kosten bleibt ihr Nutzen für den Personen- und Gütertransport relativ gering.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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