Doris Leuthard hat Angst vor „dicken Schlagzeilen“
«Die Leute, die gegen eine zweite Gotthard-Röhre sind, sind noch nie durch den Gotthard-Tunnel gefahren», meinte vor ein paar Tagen in Zürich ein Bekannter zu mir – offensichtlich vergessend, dass ich im Tessin daheim bin und jedes Jahr etwa 50 mal durch oder über den Gotthard fahre. Und dass ich, es sei gleich gestanden, gerade deshalb gegen eine «zweite Röhre» bin. Der Stau vor dem Gotthardtunnel hält sich nämlich in Grenzen. Die Sicherheit im Tunnel ist ausreichend. Und es gibt andere, gute Gründe, meine ich (Christian Müller), die klar gegen eine weitere Röhre sprechen.
Die Schweiz am Sonntag brachte in ihrer Ausgabe vom 7. Februar über drei Seiten lang ein Gespräch zwischen Verkehrsministerin Doris Leuthard und sieben ausgewählten Leserinnen und Lesern der Zeitung, darunter Wissenschafter, Transportunternehmer, Junge und auch schon Pensionierte, aus verschiedenen Parteien. Es ergab sich eine bemerkenswerte Gesprächsrunde und eine angeregte Diskussion. Überschrieben waren die drei Zeitungsseiten mit der Headline «Mobilität ist eigentlich zu billig», einem Zitat aus einer Antwort Leuthards auf eine ihr gestellte Frage.
Warum nur «eigentlich»?
Die Aussage irritiert. Warum «eigentlich zu billig»? Die sprachliche Analyse kann nur ein Resultat liefern: «Die Mobilität ist, wenn wir alles bedächten und ehrlich wären, zu billig.»
Ja, wenn wir alles bedächten! Die Realität ist, dass wir mit jeder Verkehrserleichterung völlig unsinnige zusätzliche Transporte generieren und im Endeffekt Arbeitsplätze exportieren. Das Einfliegen von Früchten, Gemüse und Rosen aus dem südlichen Afrika funktioniert nur, weil die Transporte nichts mehr kosten. Die Textil- und Schuhindustrie in Italien liegt am Boden, weil es billiger ist, tiefpreisige Produkte aus Asien hierher zu schiffen. Die Hälfte der Schweizer Druckereien haben geschlossen, weil es billiger ist, Gedrucktes aus Druckereien in Osteuropa hierher zu karren. Und, und und. Je breiter die Autobahnen und Tunnels, umso billiger kann importiert werden. Kein Zufall, dass auch Migros und Coop für einen zweiten Gotthard-Strassentunnel einstehen – mit dem Hinweis auf die «Versorgungssicherheit». Wobei es nur um die «Sicherheit» geht, dass auch mitten im Winter frische Südfrüchte billig in die Regale kommen. Denn auch 1950, als die Schweizer im Winter noch Wintergemüse verzehrten, ist hierzulande niemand verhungert.
Und warum wagt Leuthard den Satz nicht ohne «eigentlich»?
Die Antwort gibt Verkehsministerin Doris Leuthard gleich selber. Zitat aus dem Gespräch:
«Ruth Wespe: Wir haben noch keine Kostenwahrheit. Strom von AKW ist viel zu billig, alternative Energien sind zu teuer. ()
Doris Leuthard: () Wollten wir im Verkehr Kostenwahrheit herstellen, bekäme dies vor allem der öV zu spüren. Er ist zu 50 Prozent subventioniert. Der Individualverkehr auf der Strasse deckt seine Kosten weitgehend. Natürlich gibt es noch die berechtigte Diskussion, dass man Kosten zu Gesundheit und Umwelt internalisiert. Studien zeigen, wie viele Milliarden das kosten würde. Von Preisaufschlägen wären Strasse und Schiene betroffen. Wenn die Bahnunternehmen die Tarife anpassen, haben wir jeweils dicke Schlagzeilen. Daher dürfte das schwierig sein.»
Eben: Doris Leuthard hat Angst vor dicken Schlagzeilen.
Doch weiter aus dem Gespräch:
«Ruth Wespe: Trotzdem sind die Züge sehr voll.
Doris Leuthard: Ich teile Ihre Meinung, dass Mobilität eigentlich zu billig ist. Bei der Strasse wurde die Teuerung lang nicht mehr angepasst, man fährt heute viel günstiger als früher. Nach 40 Jahren den Zuschlag auf der Mineralölsteuer anzupassen, hält der Bundesrat darum für vertretbar. Bei der Energie müssen wir die Aufschläge wirtschaftsverträglich gestalten, sonst haben energieintensive Unternehmen ein Problem. Auch hier muss man austarieren. Wir müssen Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik aufeinander abstimmen.»
Fazit: Die Mobilität ist zu billig. Man weiss es – eigentlich. Aber man kann sie nicht teurer machen, weil energieintensive Unternehmen sonst «ein Problem» haben. Und weil die Medien dann, in selbstloser Verbundenheit mit den Unternehmen, «dicke Schlagzeilen» machen. Politisch nennt sich das dann «Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik aufeinander abstimmen.»
Die Alpenschutzinitiative von 1994, die nie umgesetzt wurde, lässt grüssen. Und das Versprechen, in Zukunft würde dann in jeder Röhre nur ein Fahrstreifen freigegeben, kann man eh gleich vergessen. Zugut ist in Erinnerung, wie schnell der Bundesrat 2001 der EU zuliebe das Maximalgewicht für die Trucks auf der Gotthardroute von 28 auf 40 Tonnen erhöht hat.
Aber noch etwas: Warum ist in der Werbung immer von einer zweiten Gotthard-Röhre die Rede, wo es doch bereits drei gibt: zwei für die Bahn, die auch Autos transportieren kann, und eine für den Strassenverkehr? Es geht «eigentlich» – wenn wir denn ehrlich wären – jetzt um die vierte Röhre durch den Gotthard…
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Leider sind die Zitate im ersten Abschnitt völlig unklar: Wer hat nun was gesagt? Leuthart oder der Bekannte? Wer sagt: …deshalb gegen eine «zweite Röhre» bin. Der Stau vor dem Gotthardtunnel hält sich nämlich in Grenzen. Die Sicherheit im Tunnel ist ausreichend. Falls es Leuthart gesagt hat, wäre das insofern interessant, weil diese Aussage ihren Auftritten völlig widerspricht.
Markus Meili
@Markus Meili: Alle Zitate in diesem Artikel sind in Anführungszeichen gesetzt. Der erste Abschnitt ist kein Zitat, sondern meine persönliche Meinung. Um alle Missverständnisse auszuschliessen, habe ich dort jetzt nochmals meinen Namen hingesetzt.
Christian Müller
Aber nein, Mobilität ist nicht zu billig. Verkehr ist zu billig! Wenn man das dauernd verwechselt, ist keine sinnvolle Verkehrsdebatte möglich. Vgl. http://www.woz.ch/1405/enzyklopadie-zeitgenossischer-irrtumer-41/mehr-verkehr-macht-mobiler
Das Argument mit der Sicherheit ist das Märchen des Jahrhunderts.