Die Schweiz entwickelt sich nicht nachhaltig
»Nachhaltig» ist ein Allerweltswort. Es gründet in der Waldwirtschaft und beschränkte die Holznutzung schon im 19. Jahrhundert auf die Menge, die jährlich nachwächst. «Nachhaltigkeit verlangt», so definierte später die Brundtlandt-Kommission umfassender und unverbindlicher, «dass die heute lebenden Menschen ihre Bedürfnisse decken können, ohne den in Zukunft lebenden Menschen die Möglichkeit einzuschränken, ihre eigenen Bedürfnisse zu decken».
In der Bundesverfassung verankert
Die internationale Umweltkonferenz, die 1992 in Rio de Janeiro stattfand, erhob die Nachhaltigkeit (Sustainability) zum globalen Ziel für Natur, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Schweiz verankerte den Begriff später im (Zweck-)Artikel 2 der Bundesverfassung: «Sie (die Eidgenossenschaft) fördert die gemeinsame Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung, den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes.»
Trotz Definition blieb der Begriff «Nachhaltigkeit» abstrakt und beliebig. Um ihn fassbar zu machen, wählte der Bund ökonomische, ökologische und soziale Indikatoren, mit denen sich die nachhaltige Entwicklung konkretisieren, messen und statistisch erfassen lässt. Die neusten Resultate hat das Bundesamt für Statistik Anfang 2012 veröffentlicht*. 20 Jahre nach dem Erdgipfel in Rio lässt sich damit abschätzen, wo und wieweit die Schweiz einen nachhaltigen Kurs verfolgt, erreicht oder verfehlt.
Mit 36 gegen 33 im Minus
Diese Nachhaltigkeits-Statistik umfasst insgesamt 72 Indikatoren. Bei jeder dieser Messlatten legte der Bund die «angestrebte Entwicklung» mit einem Pfeil fest. Dieser zeigt entweder aufwärts, abwärts oder seitwärts. Beispiel: Im Interesse der Nachhaltigkeit ist es erstrebenswert, wenn die Produktivität der Arbeit steigt, der Energieverbrauch hingegen sinkt und die Siedlungsfläche nicht weiter zunimmt. Dieser angestrebten wird die tatsächliche Entwicklung der einzelnen Indikatoren gegenüber gestellt, soweit sich diese zahlenmässig erfassen lässt. Im Idealfall beginnen die Datenreihen im Jahr 1992, als die Nachhaltigkeits-Strategie startete. Die Resultate im Überblick:
o ERFOLG Bei 33 Indikatoren entspricht die tatsächliche der angestrebten Entwicklung. Beispiele: Die Arbeitsproduktivität in der Schweiz hat zugenommen, ebenso die ökologische Qualität des Waldes, der Anteil des öffentlichen Personenverkehrs oder die Lebenszeit mit guter Gesundheit. Auf der andern Seite ist der Schadstoffeintrag in die Seen oder die Feinstaubkonzentration in der Atemluft wie angestrebt gesunken.
o MISSERFOLG Bei 36 Indikatoren wird die angestrebte Entwicklung verfehlt. Beispiele: Energieverbrauch, Materialbedarf, Siedlungsfläche, Abfall und Übergewicht sind seit 1992 unerwünscht weiter gewachsen. Auf der andern Seite wurde die angestrebte Zunahme der Lebenszufriedenheit ebenso verfehlt wie die Zunahme des frei verfügbaren Einkommens (weil die Zunahme der mittleren und tiefen Einkommen durch stark steigende Krankenkassenprämien und Wohnkosten überkompensiert wurde).
o Bei den 3 verbleibenden Indikatoren fehlt mangels Daten ein klares Ergebnis.
Ein Dreieck mit vielen Zielkonflikten
Im Nachhaltigkeits-Dreieck stehen sich die drei Ziele Natur(verträglichkeit), wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und gesellschaftliche Solidarität gleichwertig gegenüber. In Wirklichkeit aber gibt es Konflikte. Beispiel: Zunehmende Produktivität und abnehmende Erwerbslosigkeit, die der Bund anstrebt, fördern das Wachstum der Wirtschaft. Die wachsende Wirtschaft wiederum fördert Material-, Energie- und Landverbrauch sowie körperliches Übergewicht, also Dinge, die im Interesse von Natur und Gesellschaft abnehmen sollten.
Ebenso aufschlussreich wie die Gesamtbilanz sind Teilresultate. Dabei zeigt sich: Bei wirtschaftlichen Indikatoren oder Indikatoren, bei denen sich Ökonomie und Ökologie überschneiden, wird die angestrebte Entwicklung öfter erreicht als dort, wo es primär um ökologische oder gesellschaftliche Nachhaltigkeit geht. Beispiel: Absolut nahm der Energieverbrauch zu, was ökologisch einen Minuspunkt ergibt. Aber der Energieverbrauch wuchs etwas weniger stark als das Bruttoinlandprodukt. Darum verminderte sich – wie angestrebt – die Energieintensität der Wirtschaft, was ökonomisch als Pluspunkt bewertet wird.
Unterschiedlich ist auch der Stellenwert der einzelnen Indikatoren. Beispiel: Der ökologische Fussabdruck, der den gesamten Naturverbrauch pro Kopf erfasst, ist ein gewichtigerer Indikator als die ökologische Qualität allein des Waldes. Dieser unerwünscht wachsende Fussabdruck müsste damit stärker ins Gewicht fallen als die erwünschte Verbesserung des Waldes.
Obwohl die Resultate also relativiert werden müssen, ist es wichtig und richtig, dass die Schweiz versucht, ihre Nachhaltigkeit zu messen. Die Nachhaltigkeits-Indikatoren schaffen das notwendige Gegengewicht zum allgegenwärtigen Bruttoinlandprodukt, das einseitig den Umfang und das Wachstum der Wirtschaft misst. Denn in der Bundesverfassung gibt es – im Unterschied zur nachhaltigen Entwicklung – keinen Auftrag zur Förderung des Wirtschaftswachstums.
*Die Taschenstatistik «Nachhaltige Entwicklung 2012» ist elektronisch verfügbar unter: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/21/22/publ.html
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Es ist problematisch, wenn bei der Nachhaltigkeit Natur, Wirtschaft und Gesellschaft gleichwertig behandelt werden. Das Fundament ist die Natur und deshalb sollte die Natur erste Priorität geniessen.